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Bildung

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Bildung: Geschlossene Gesellschaft

Die Herkunft zählt: Eine neue Studie zeigt, wie wenig durchlässig das deutsche Bildungssystem ist. Wer aus der Oberschicht kommt, hat es leichter im Beruf.

Aufstieg durch Bildung und Chancengleichheit waren die großen Verheißungen der Bildungsreform seit den sechziger Jahren. Das „benachteiligte katholische Mädchen vom Dorf“ sollte nach dem Reformaufbruch möglichst sicher einen Platz in der Hochschule und damit im Kreis der künftigen Akademiker finden. Damit das nicht nur eine Forderung der Wahlprogramme blieb, wurden integrierte Gesamtschulen vom Fließband geschaffen. Selbst entschiedene Verfechter des dreigliedrigen Schulsystems betonten die Durchlässigkeit für alle Schichten und alle Begabungen. Doch was ist dabei herausgekommen?

Wenn man dem renommierten Bildungsforscher Helmut Fend von der Universität Zürich folgt, hat es diese Durchlässigkeit zwar an den Schulen gegeben. Aber sie bildet sich nach dem Schulbesuch nicht so klar in der Berufswirklichkeit ab, wie es die Linken damals erhofft hatten. Fend hat etwas Aufsehenerregendes getan: Er hat 1527 Kinder, die im Jahr 1976 zwölf Jahre alt waren, in ihrem Schul- und Berufsverlauf bis zum 35. Lebensjahr verfolgt. Die Ergebnisse wird er demnächst in einem Buch veröffentlichen. Ein wenig lüftete er schon das Geheimnis auf einem Symposium zu Ehren des ehemaligen Direktors des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Peter Martin Roeder, das jetzt in Berlin stattfand.

Nach der Langzeituntersuchung von Fend reproduziert sich die Oberschicht über den Schulbesuch auch anschließend in der Berufswelt. Über 60 Prozent der Oberschichtenkinder erreichen den Hochschulabschluss. Vergleichsweise reproduzieren sich auch die Arbeiter am anderen Ende der sozialen Skala. Über 60 Prozent gehen in die Berufsausbildung und schließen eine Lehre ab. Etwa ein Drittel der Arbeiterkinder schafft es noch auf die nächst höhere Ebene der Fachschulen. In der Mittelschicht dominiert ebenfalls der Karriereweg über die Berufsausbildung und die Fachschulen. Aber den Weg an die Hochschulen finden etwas mehr Aufsteiger der Mittelschicht, als es den Arbeiterkindern gelingt.

Fend schließt aus den Befunden, dass der Einfluss der Familie, aus denen die Kinder kommen, auf die Bildungschancen viel bedeutender ist als angenommen. Das bloße Zusammensein von Schülern aus unterschiedlichen sozialen Schichten in den Gesamtschulen schaffe von sich aus noch keinen pädagogischen Zusammenhang. Schwache und undisziplinierte Schüler könnten auch an Gesamtschulen vernachlässigt werden, weil sich niemand unter den Lehrern so intensiv um sie kümmern könnte wie an Hauptschulen. Dort müssten sich die Lehrer mit den Problemen auseinandersetzen – an Gesamtschulen könnten die Lehrer die Fürsorge für verhaltensauffällige Jugendliche als Strafaktion ansehen, der sie ausweichen wollten. Außerdem sei es ein Fehler, den Aufstieg der unteren sozialen Schichten durch eine Reduzierung der Leistungsansprüche zu ermöglichen.

Natürlich will Fend die Probleme der integrierten Gesamtschule der 1970er und 1980er Jahre nicht mit den heutigen Plänen für Gemeinschaftsschulen direkt vergleichen. Heute komme niemand mehr um die Anerkennung von Leistungsstandards als Folge der Pisa-Untersuchungen herum. Die Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten führten auch zu vergleichbaren Anforderungen quer durch die Schultypen und Jahrgänge. Aber man solle sich der Tatsache bewusst sein, dass die Größe der Gemeinschaftsschulen zu einem pädagogischen Problem werden könne, wenn es nicht zu erheblichen Investitionen in die Schulausstattung komme. Man könne sehr gute Gemeinschaftsschulen bilden. Aber man könne auch Gemeinschaftsschulen wie Gesamtschulen an den Rand der pädagogischen Katastrophe führen.

Hartmut von Hentig, ehemaliger Leiter der Laborschule in Bielefeld, sieht den wesentlichen Grund für die Bildung von Gesamtschulen darin, dass die Aufteilung der Schüler nach der vierten Klasse zu früh vorgenommen werde. Die Pädagogen seien ratlos, weil sie kein geeignetes Instrument zur Verfügung hätten, um den Bildungserfolg von Zehnjährigen sicher vorhersagen zu können.

Natürlich sind die schockierenden internationalen Bildungsuntersuchungen in Mathematik, Fremdsprachen, Naturwissenschaften und der Lesefähigkeit so aufrüttelnd gewesen, dass die Politiker handeln müssen und dazu den Rat der Bildungsforscher benötigen. Der Bildungshistoriker Heinz Elmar Tenorth von der Humboldt-Universität sieht es als einen Fortschritt an, wenn die Bildungsforscher den Politikern keine Empfehlungen und damit fertige Handlungskonzepte liefern, sondern nur Wissen und Beobachtungsergebnisse. Diese Hinwendung zur empirischen Bildungsforschung, die erst in jüngster Zeit in Deutschland ihren Siegeszug angetreten hat, bietet den Politikern die Chance, die richtigen Fragen zu stellen und selbst zu entscheiden, welche Erkenntnisse der Bildungsforschung sie übernehmen wollen.

Tenorth sieht diese Beschränkung der Bildungsforschung als Fortschritt an. „Wir haben uns unsere Flausen ausgetrieben.“ Damit nahm er Bezug auf Zeiten, in denen die Bildungsforscher noch Konzepte zur Verbesserung der Gesellschaft aus der Philosophie und der Soziologie übernahmen.

Uwe Schlicht

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