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Biologie: Dr. Diät und Dr. Jogging

Charité-Ringvorlesung zur Evolution der Medizin: Der menschliche Organismus als Ergebnis von mehr als drei Milliarden Jahren Entwicklung.

150 Jahre ist es her, dass Charles Darwin mit seinem Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“ das Fundament für die moderne Biologie und für ein neues Verständnis des Menschen legte. Und die Medizin? Bis heute ignoriert sie die Evolutionsbiologie weitgehend, sieht den Körper als eine Maschine an, die gelegentlich repariert werden muss. Und nicht als das, was der menschliche Organismus in Wahrheit ist – das Ergebnis von mehr als drei Milliarden Jahren Entwicklung.

„Die Evolution wird in keinem Lehrplan des Medizinstudiums berücksichtigt, sie wird ganz einfach nicht unterrichtet“, kritisierte der Charité-Humangenetiker Karl Sperling am Mittwoch bei der ersten Ringvorlesung zum 300. Jubiläum der Berliner Universitätsklinik. Die Ringvorlesung steht unter dem Motto „Die Evolution der Medizin“, Sperling hatte sich in seinem Vortrag die Frage gestellt: „Wird es eine neue ,Evolutionäre Medizin‘ geben?“

Der Fortschritt ist eine Schnecke, auch in der Medizin. Süffisant erinnerte Sperling an den preußischen König Friedrich I., der die Charité 1709 gründete. Als Leibarzt wählte sich der König einen Scharfrichter. „Weil sich Henker zu jener Zeit am besten mit der Anatomie auskannten“, sagte Sperling.

Über die menschliche Biologie herrschten abenteuerliche Vorstellungen. Man glaubte, der Mensch sei als Homunculus bereits im Spermium oder der Eizelle vollständig entwickelt. „Spermisten“ und „Ovisten“ lagen sich in den Haaren, ob nun Samen- oder Eizelle das komplette Menschlein enthielten. War der Vorrat aufgebraucht, stand, so meinte man, das Jüngste Gericht bevor.

Anfang des 19. Jahrhunderts begann der Siegeszug der Zelltheorie, verbunden mit dem Charité-Pathologen Rudolf Virchow. „Omnis cellula e cellula“ – „Jede Zelle entsteht aus einer Zelle“ lautete Virchows berühmter Aphorismus. Leben entsteht also aus Leben, es ist nicht bei einer Urzeugung ein für allemal in die Welt gesetzt worden. Anpassung an die Umgebung und Auslese der Überlebens- und Vermehrungsfähigsten – mit diesen Grundsätzen erklärte Darwin dann die Entstehung neuer Arten. Erst im 20. Jahrhundert wurde aufgeklärt, welche zu Darwins Zeit noch unbekannten genetischen Vorgänge sich dahinter verbergen.

Die Evolution geht oft Kompromisse ein. Das zeigt die Sichelzellanämie. Diese Form der Blutarmut ist unter Afrikanern weitverbreitet, denn in der mischerbigen Form erhöht sie die Überlebenschance bei Malaria. Menschen mit der reinerbigen Variante besitzen dagegen nicht nur eine, sondern zwei Kopien des Sichelzell-Gens und sind oft schwerkrank.

Der Lebensstil hat sich in der modernen Überflussgesellschaft rasch und radikal gewandelt, nicht aber unsere Gene. „Die Steinzeit steckt uns in den Knochen“, sagte Sperling. Und leitete aus der menschlichen Biologie ab, wer für ihn „die wichtigsten Ärzte Deutschlands“ sind: Dr. Diät, Dr. Jogging, Dr. Nichtraucher, Dr. Sudoku und Dr. Fröhlich.

Bislang beschränkt sich, das machte Sperlings Vortrag deutlich, die „Evolutionäre Medizin“ noch darauf, das Entstehen von Krankheiten besser zu verstehen oder allgemeine Verhaltensratschläge zu geben. Vielleicht ändert sich das, wenn jedermann sein komplettes Erbgut für 1000 Dollar entziffern lassen und so sein ganz persönliches „evolutionäres Erbe“ betrachten kann. Im Jahr 2011 soll es so weit sein.

„Biologischer Determinismus – das neue Menschenbild der Medizin?“ ist der Titel der nächsten Ringvorlesung am 3. Juni um 19 Uhr. Ort: Langenbeck-Virchow- Haus, Luisenstraße 58/59.

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