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© dpa

Verschwörungstheorien: Das Aidsvirus als Geschöpf des Klassenfeinds

Seit es Aids gibt, gibt es Verschwörungstheorien zu dieser Krankheit. Die US-Armee erzeugte den Aids-Erreger – diesen Mythos soll die Stasi gestreut haben. Doch die Belege weisen in eine andere Richtung.

Seit es Aids gibt, gibt es Verschwörungstheorien zu dieser Krankheit. Ende der 80er-Jahre war es vor allem die Behauptung, der Aids-Erreger sei in amerikanischen Labors „gezüchtet“ worden, die Aufregung hervorrief. Das Gerücht wurde von dem DDR-Mediziner Jakob Segal verbreitet, der dazu 1987 in einem Interview der „tageszeitung“ von Stefan Heym befragt wurde. Heute behauptet die Zeitung, es habe sich um eine gezielte Kampagne der Stasi gehandelt.

Dem widerspricht unser Autor, der Genetiker Erhard Geißler vom Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin. Er war damals Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch. Eine Geschichte von Viren, Wissenschaftlern und Geheimdiensten im Sumpf des Kalten Krieges.

Reichlich zwanzig Jahre ist es her, dass Desinformationen von der Abteilung X der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in die Welt gesetzt wurden. Einige ihrer ehemaligen Obristen fahren damit munter fort, und einige Journalisten und ihre Leser fallen immer noch darauf herein. Dabei geht es um die von der Wissenschaft längst beantwortete Frage nach der Herkunft des Erregers der Immunschwäche Aids.

Vor 25 Jahren wusste man das noch nicht so genau. Hypothesen wucherten. Eine Spekulation war, der Erreger sei durch genetische Manipulation von Wissenschaftlern erzeugt worden. In einem Artikel in der sowjetischen „Literaturnaya Gazeta“ wurde am 30. Oktober 1985 behauptet, der Erreger sei im Biowaffeninstitut der US-Armee in Fort Detrick im Rahmen der Biowaffenforschung entwickelt worden.

Das griff unter anderem ein eloquenter DDR-Wissenschaftler auf. Bis zu seinem Tode vertrat Professor Jakob Segal, ehemals Direktor des Instituts für Allgemeine Biologie an der Humboldt-Universität, hartnäckig und mit nachhaltigen Auswirkungen ab Ende 1985 die gleiche These. Segal behauptete, das Erbmaterial des Aids-Erregers sei von Geningenieuren in Fort Detrick konstruiert worden.

Diese Hypothese strotzte vor Irrtümern und Fehlkalkulationen. Darauf war Segal von Anfang an von dem Kölner Genetiker Benno Müller-Hill in einem Briefwechsel aufmerksam gemacht worden. Er endete mit einem Rat Müller-Hills am 2. April 1986: „Ich halte nach wie vor Ihre Hypothese, das Aids-Virus sei in Fort Detrick konstruiert worden, durch die von Ihnen angeführten Indizien nicht bewiesen“ und schließt: „Gerade weil das von Ihnen vermutete (nicht bewiesene) Verbrechen so groß ist, ist es meiner Ansicht nach unverantwortlich, die in vitro Rekombination in Fort Detrick aus den von Ihnen vorgelegten Daten als bewiesen anzusehen und damit an die Öffentlichkeit zu treten“.

Segal ließ sich jedoch von dieser Experten-Meinung nicht beeindrucken, und auch nicht von der Tatsache, dass inzwischen auch aus Moskau stichhaltige Gegenargumente laut wurden. Vielmehr beklagte er sich bei Politbüro-Mitglied Hermann Axen am 27. August 1986 sogar darüber, dass Prof. Victor Zhdanow, der Direktor des renommierten Moskauer Ivanovsky-Instituts für Virologie, mitgeteilt habe, der Erreger existiere in der UdSSR bereits seit 1974, also schon vor der Einführung der Gentechnik.

Axen fühlte sich für diese Problematik nicht zuständig und reichte die Memoranden Segals dem Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik des Zentralkomitees (ZK), Professor Karl Seidel, weiter. Der empfing daraufhin Segal am 17. September 1986 zu einem ausführlichen Gespräch und fertigte darüber eine Aktennotiz für das für Wissenschaft und Medizin zuständige Politbüromitglied Professor Kurt Hager an.

Seidel meinte, die von Segal vertretene Auffassung „wäre, wenn sie sich bestätigt oder wenn sie auch nur z.T. eine Bestätigung findet, einer Entlarvung von Schritten der biologischen Kriegsvorbereitung seitens des USA-Imperialismus gleichzusetzen, die von hoher politischer Brisanz ist“ und empfahl ihre rückhaltlose Verbreitung. Interessanterweise entschied Hager jedoch postwendend am 25. September, „unsere restriktive Informationspolitik über Aids soll beibehalten werden“. Weiter schrieb Hager an Seidel, „da Genosse Segal selbst von einer Hypothese spricht, müssten evtl. Veröffentlichungen in offiziellen Publikationen der DDR vermieden werden. Wie weit seine Vermutungen in entsprechenden Zeitschriften des Auslandes veröffentlicht werden können, weiß ich nicht. Sie müssten selbstredend von Gen. Segal als Wissenschaftler selbst verantwortet werden“.

Segal machte davon unverzüglich Gebrauch: In einem gemeinsam mit seiner Frau Lilli und einem Berliner Chemiker verfassten Manuskript brachte er – und nicht der KGB, wie die „tageszeitung“ (taz) am 9./10. Januar behauptet – seine Thesen unter dem Titel „Aids: USA Home-made Evil, Not Made in Africa“ auf der Achten Konferenz der blockfreien Staaten in Harare, Zimbabwe, Anfang September 1986 unter die Leute.

Zwei Monate später, am 21. November 1986, konnte Segal seine Thesen auch in der DDR wenigstens einem ausgewählten Hörerkreis vortragen, den der Vorsitzende der Aids-Beratergruppe, Professor Niels Sönnichsen eingeladen hatte. Sönnichsen berichtete nach der Veranstaltung dem Gesundheitsminister, alle Diskussionsredner (zu denen auch ich gehörte) hätten zum Ausdruck gebracht, „dass es für die Theorie von Prof. Segal zwar einige Hinweise geben könne, jedoch keine schlüssigen Beweise vorlägen. Prof. Segal war von seiner Meinung nicht abzubringen.“ Segal schreckte auch vor Lügen nicht zurück. So behauptete er in der Diskussion, Benno Müller-Hill habe seinen Argumenten zugestimmt.

Dann wurde am 18. Februar 1987 in der „taz“ auf drei Seiten das Interview veröffentlicht, das Stefan Heym bereits am 1. November mit Segal geführt hatte. Es war hervorragend gemacht und wirkte überzeugend. Die Argumentationskette schien plausibel. Empört rief ich Heym an. Der notierte am 2. März 1987 in seinem Tagebuch, dass ich angerufen und ihm gesagt hätte, Segal sei ein Scharlatan und habe ihm einen Bären aufgebunden. Er vermerkte auch, dass er eine öffentliche Podiumsdiskussion mit Segal und mir vorgeschlagen habe. Aber da ließ ich meine Finger von, denn gegen den sowohl eloquenten wie – zumindest in dieser Hinsicht – verlogenen Segal konnte ich vor einem uninformierten Publikum keine Punkte gewinnen.

Trotzdem konnte man Segals mit Heyms Unterstützung weit verbreitete Thesen nicht so im Raum stehen lassen. Aber allein fühlte ich mich machtlos gegen den einflussreichen Segal. Ich suchte mir also einen des Antikommunismus unverdächtigen Fachmann als Koautor, den Direktor des Institutes für Virologie der Charité, Genossen Professor Hans-Alfred Rosenthal. Als Mitglied der Beratergruppe „Aids“ des Gesundheitsministeriums war er für ein solches Vorhaben bestens qualifiziert. Gemeinsam schrieben wir einen entsprechenden Artikel für die Zeitschrift für ärztliche Fortbildung. In dem argumentierten wir, dass es nicht einmal halbwegs überzeugende Indizien dafür gebe, dass HIV in Fort Detrick oder einem anderen Genlabor von Menschenhand konstruiert worden sei.

Am 11. März 1987 wurde ich zu Professor Karl Seidel, dem Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK bestellt. Der erklärte mir, die CIA sei natürlich sehr daran interessiert, dass die USA von den Vorwürfen der HIV-Konstruktion reingewaschen würden. Auf unsere sachlichen Argumente ging er überhaupt nicht ein – vermutlich hatte er sie überhaupt nicht gelesen. Vielmehr meinte er vielsagend: wenn ich diesen Artikel veröffentlichen würde, müsse man annehmen, ich handele im Auftrag der CIA.

Da mir klar war, dass ich natürlich nicht beweisen könnte, nicht im Auftrag der CIA zu handeln, legte ich das Manuskript zu den Akten. Auf die Idee, den Beitrag einer „Westzeitschrift“ anzubieten, kamen wir nicht. Hans-Alfred Rosenthal hätte das aus Gründen der Parteidisziplin sicher auch nicht mitgemacht, und ich hätte grob gegen die Publikationsordnung meines Arbeitgebers, der Akademie der Wissenschaften, verstoßen.

Aber ich fand andere, wenn auch weniger direkte Wege, Segal öffentlich zu widersprechen, beispielsweise in einem als Antwort auf einen Leserbrief getarnten Artikel in „wissenschaft und fortschritt“ und vor allem in dem längeren Aufsatz „Aids – eine zusätzliche Lektion“ für eine Publikation des Urania-Präsidiums.

Die weitaus beste Möglichkeit, Segals gefährliche Thesen zurückzuweisen, bot sich mir kurz vor der Wende, als ich 1989 von der angesehenen amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (AAAS) als Referent zur Jahrestagung eingeladen wurde. Die Tagung stieß auf großes Medieninteresse. Auch für mich Exoten aus der DDR gab es durchaus Interesse, zumal ich aus jenem Land kam, von dem aus immer noch die Schauergeschichte von der US-Army-Herkunft des Aids-Erregers verbreitet wurde. Jedenfalls wurde ich am 17. Januar auf der Pressekonferenz der AAAS vorgeführt und dort unter anderem auch nach meiner Meinung zur Aids-Herkunft befragt, und ob Segals Thesen die Haltung der DDR zu dieser Frage widerspiegelten. Dass Segal das in der DDR nicht publizieren durfte, wusste ja fast keiner. Im Anschluss an die Pressekonferenz führte ich mit zwei Korrespondenten der Deutschen Presse-Agentur ein langes, offenherziges Gespräch, vor allem über Segal. Die verbreiteten daraufhin am 18. Januar 1989 eine Meldung unter anderem folgenden Inhalts:

altes geruecht um aids-virus ein „unappetitlicher politthriller“ = san francisco (dpa) - als einen „unappetitlichen politthriller“ hat der ddr-wissenschaftler erhard geissler einen vorwurf zurueckgewiesen, der vor allem von einem ddr-wissenschaftler gegen die usa erhoben worden war. der pensionierte biologieprofessor jakob segal hatte vor laengerer zeit aufsehen mit der - immer wieder aufgegriffenen - behauptung erregt, die usa haetten das aids-virus im zuge ihrer forschungen über die biologische kriegsführung entwickelt. dieser vorwurf seines landsmannes und kollegen sei „absolut unsinn“ sagte geissler. es gebe gute beweise dafür, dass es gar nicht moeglich sei, das aids-ausloesende hi-virus aus anderen retroviren zu basteln. ein solches geruecht saee nur misstrauen.

Als ich nach Berlin zurückgekommen war, erwartete mich im Institut die Nachricht, ich solle so bald als möglich zu Seidel ins ZK kommen. Segal hatte sich wieder bei Axen gemeldet, diesmal, um mich zu denunzieren, ich würde im Kernland des Klassenfeinds herumreisen und ihn, den guten Kommunisten Segal, anschwärzen. Als Beleg dafür hatte er die von ihm abgeschriebene dpa-Meldung beigelegt. Seidel ignorierte den „unappetitlichen Politthriller“ und fragte mich lediglich, ob die Meldung aus meiner Sicht korrekt sei. Nachdem ich dies bejahte, wollte er wissen, was denn nun die „Knackpunkte“ meiner Kritik an Segals Behauptungen seien. Ich trug ihm meine Argumente vor, sie schienen ihn zu überzeugen, und wir schieden zwar nicht in Freundschaft, aber in Frieden.

Warum Segal auch nach Veröffentlichung überzeugender Indizien für einen natürlichen Ursprung von HIV bis zum Tode an seiner These festhielt, wird vermutlich nicht mehr zu klären sein. Unklar bleibt auch, ob er seinerzeit auf die durch „Literaturnaya Gazeta“ losgetretene Gerüchte-Walze als Trittbrettfahrer aufgesprungen ist oder im Auftrag von östlichen Geheimdiensten handelte. In ihrem Buch „Auftrag Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte“ hatten die ehemaligen Stasi-Oberstleutnants Günter Bohnsack und Herbert Brehmer bereits 1992 behauptet, bei der Aids-Kampagne habe es sich um eine mit der Moskauer KGB-Zentrale abgestimmte „Desinformationsaktion“ der Abteilung X der HVA gehandelt und Stefan Heym habe durch das Interview mit Segal für eine weltweite Verbreitung der „Aids-Lüge“ gesorgt. (Abteilung X war für „Aktive Maßnahmen“, das heißt für Desorientierung, Irreführung und Täuschung, zuständig). Obwohl ich das inzwischen anhand zahlreicher Dokumente aus der Birthler-Behörde in einem längeren Beitrag für die Zeitschrift des Forschungsverbandes SED-Staat widerlegen konnte, hält Bohnsack an seinen Behauptungen fest und sowohl „taz“ als auch „Berliner Zeitung“ (vom 11. Januar) gehen ihm wieder auf den Leim.

Tatsache ist vielmehr, dass nicht erst das Interview, sondern bereits Segals in Harare verbreitetes Manuskript für weltweites Aufsehen gesorgt hat. Insbesondere der Londoner Sunday Express griff die Hypothese auf, und das wurde dann weltweit zitiert. So meldete die australische Canberra Times: „Aids von US-Wissenschaftlern geschaffen“.

In der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen war ich schon vor einigen Jahren fündig geworden. Dort gibt es tatsächlich einschlägige Dokumente: Segal war mindestens in den 1950er Jahren eine Zeit lang IM, unter dem für einen Biologen passenden Decknamen „Haeckel“. Damals hatte er sich vor allem über führende Wissenschaftler der Deutschen Akademie der Wissenschaften sehr negativ geäußert. Beispielsweise notierte sein Führungsoffizier Major Kairies 1955: „Über das Institut für Bakterienforschung in Jena berichtete Prof. Segal, dass der Leiter desselben, Prof. Knöll, am 17.6.1953 in der Spitze der Demonstrationszüge gegen die Regierung der DDR aufgetreten ist“ . Hans Knöll war der Begründer der Penizillin-Forschung und -Produktion in der DDR. Im gleichen Jahr hatte Segal laut Akten seinem Führungsoffizier sogar vorgeschlagen, „aufgrund der negativen Entwicklung von Rompe einen Autounfall zu inszenieren, um damit Rompe zu beseitigen“. Der später sehr einflussreiche Physiker Professor Robert Rompe, von 1958 bis 1989 ZK-Mitglied, war 1950-1951 vorübergehend von der Zentralen Parteikontrollkommission mit einem Funktionsverbot belegt, das aber nach einer Intervention Walter Ulbrichts im September 1951 wieder aufgehoben worden war.

Aber dieses Mal handelte wohl weder Segal noch – der ja selbst unter Beobachtung stehende – Stefan Heym im Auftrag der Stasi. Bei der Staatssicherheit erfuhr man nämlich erst dann von Segals kühnen Behauptungen, als sich die CIA dafür zu interessieren begann. Die CIA wurde durch das in Harare verteilte Manuskript auf die Thesen aufmerksam und nahm bereits am 12. September 1986 Kontakt zu den Segals auf – was das MfS erst vier Wochen später registrierte. Auch von dem Interview, das der Schriftsteller mit dem Wissenschaftler geführt hatte, bekam man in der Normannenstraße erst nachträglich, nämlich mit mehr als dreiwöchiger Verspätung, etwas mit.

Tatsächlich kam es zu dem Interview nicht dadurch, dass Stefan Heym – wie in der taz vermutet wurde – „ein Spieler am großen Tisch der Geheimdienste“ war. Wie ich von Inge Heym erfuhr, war ihr Mann am 9. Oktober 1986 von seinem Arzt Dagobert Müller auf ein entsprechendes Manuskript Segals aufmerksam gemacht worden. Erst daraufhin verabredete sich Heym mit Segal für das Interview. Bis dahin waren sie, entgegen anders lautender Behauptungen, keineswegs eng befreundet. Auch Müller handelte wohl kaum im Auftrag des MfS, obwohl er früher, 1957, eine kurze Zeit lang „Geheimer Informator“ gewesen war. Seit 1966 stand er selbst im Visier der Stasi.

Es gibt also keine Belege dafür, dass Heym durch das MfS veranlasst wurde, Kontakt mit Segal aufzunehmen und diesen zu interviewen. Im Gegenteil: Die „Tschekisten“ wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Erst am 25. November 1986, mit mehr als dreiwöchiger Verspätung, erhielt Mielkes Stellvertreter Rudi Mittig eine Information „zur beabsichtigten Veröffentlichung eines Interviews des Schriftstellers Stefan Heym mit Prof. Dr. Segal über die Herkunft des AIDS-Virus“.

Übrigens behauptete der gesprächige Ex-Stasi-Oberst Bohnsack laut „taz“ auch, „dass seine Abteilung die Aids-Desinformation auch dem populären Schriftsteller Johannes Mario Simmel unterzujubeln wusste“. Sie sei schließlich in dessen Roman „Mit den Clowns kamen die Tränen“ eingeflossen. Allerdings hat Bohnsack, der für diese Aktion der Hauptverantwortliche gewesen sein will, das Buch offenbar sehr schlecht gelesen. Simmel erwähnt zwar die von Segal verbreitete Spekulation und auch das Interview mit Stefan Heym. Simmel lässt seinen zentralen Romanhelden aber korrekt kommentieren: „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das Aids-Virus wirklich irgendwo entwichen ist, wo man mit Viren experimentiert“. Der angebliche Versuch der Stasi, Simmel in ihrem Sinne zu manipulieren, hätte also das Gegenteil bewirkt – wenn es denn überhaupt solche Versuche gegeben haben sollte. Auf meine diesbezügliche Rückfrage erklärte mir Simmel jedenfalls: „Das ist alles freche Lüge“. Einschlägige Publikationen oder Manuskripte seien ihm niemals von unbekannten Quellen (hinter denen sich das MfS hätte verbergen können) übermittelt worden. Vielmehr sei er durch einen Artikel Erich Frieds auf Heyms Interview mit Segal und damit auf dessen Aids-Hypothese aufmerksam geworden.

Anfangs, als General Mittig am 25. November 1986 über den Vorgang informiert wurde, zeigte sich die HVA durchaus „an der Veröffentlichung des in der Information genannten Interviews im NSW nicht-sozialistischen Währungsgebiet] aus operativen Gründen interessiert“. Keine vier Wochen später wurden aber mehrere Abteilungen des MfS darüber unterrichtet, dass zuständige DDR-Experten der Meinung seien, „dass die Behauptung Segals wissenschaftlich und medizinisch nicht haltbar ist“. Mehr noch, im März 1987, kurz nach Veröffentlichung des Interviews mit Stefan Heym, wurde die Wirkung der Aktivitäten Segals im MfS „als ausgesprochen negativ eingeschätzt, als gegen die Entspannung gerichtet“. Es spricht also nichts dafür, aber einiges dagegen, dass das MfS für die Schaffung und Verbreitung der Aids-Lüge verantwortlich gemacht werden kann. Folglich wäre Segal nicht sein Werkzeug gewesen, gleichgültig, ob er zu dieser Zeit noch IM war oder nicht.

Nicht auszuschließen ist allerdings, dass das MfS dafür verantwortlich war, dass das Interview Heyms schließlich von der „taz“ – mit mehr als dreimonatiger Verspätung – veröffentlicht wurde. „Spiegel“ und „Zeit“, die der Autor lieber als Publikationsorgane gesehen hätte, winkten damals dankend ab…

Gleich nach der Veröffentlichung des „Literaturnaya Gaseta“-Artikels wurde auf angloamerikanischer Seite gemutmaßt, damit sei vom KGB eine weltweite Desinformationskampagne angestoßen worden. Es ist schon einleuchtend, wenn vermutet wurde und wird, hinter dem Ganzen stecke der sowjetische Geheimdienst, um die „Imperialisten“ zu diffamieren und gleichzeitig von der seinerzeit auf Hochtouren laufenden sowjetischen Biowaffenrüstung abzulenken.

Als am 18. Dezember 1990 auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ behauptet wurde, hier habe es sich um eine Kampagne vom „ ‚Dienst A'' der Ersten Hauptverwaltung der sowjetischen KGB, beschäftigt mit ‚Desinformation''“ gehandelt, wehrte sich KPdSU-Mitglied Segal gegen die Behauptung, allerdings merkwürdig verhalten: „In keiner Phase unserer Arbeit haben sowjetische Autoren oder Behörden zur Entwicklung unserer Theorie vom Ursprung des Aids einen Beitrag geleistet“.

Tatsächlich fand ich einen Hinweis auf direkte Kontakte des KGB zu Segal: Sein Führungsoffizier, Hauptmann Kairies, hatte schon 1955 vermerkt: „Am heutigen Tage Anweisung vom Gen. Berater erhalten, keine Treffs mehr mit Segal durchzuführen, da sie mit S. arbeiten. Alle Aufträge die S. erledigen kann, sollen über Instrukteur gehen“. Bei den „Genossen Beratern“ handelte es sich um die sowjetischen Verbindungsoffiziere zum MfS.

Vielleicht steckt also tatsächlich das KGB hinter der Aktion, und Segal war – wissentlich oder nicht – eine Marionette des sowjetischen Geheimdienstes.

Wie auch immer – eins ist sicher: Die Aids-Erreger sind natürlichen Ursprungs. Sie sind nicht in Fort Detrick oder einem anderen Genlabor von Menschenhand konstruiert worden. Vielmehr stammen sie von Viren afrikanischer Menschenaffen ab. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie bereits um das Jahr 1930 herum auf den Menschen übergegangen, also lange, lange vor Einführung der molekularen Genetik geschweige denn der Gentechnik. Von Afrika aus sind sie dann um 1966 nach Haiti gelangt, von dort um 1969 in die Vereinigten Staaten und dann weiter in die ganze Welt.

Erhard Geißler

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