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Übung macht den Meister. Lesenlernen verlangt dem kindlichen Gehirn zunächst viel ab. Foto: picture-alliance/ZB

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Das geschriebene Wort: Lesenlernen: Sorgen um eine Kulturtechnik

Wir lesen ein Buch und tauchen als eine andere Person aus der Lektüre wieder auf. Maryanne Wolf beobachtet das Gehirn beim Lesen.

Machiavelli ließ für zwei Personen decken, wenn er sich mit einem Buch zu Tisch setzte. Man sagt, er habe sich dazu gern auch im Stil gekleidet, der zum Autor des Werkes passte. Ein Luxus – nicht nur die Vorbereitungen für das fürstliche Diner, sondern auch das Lesen selbst. Die Erhaltung unserer Art wäre vermutlich nicht bedroht, falls wir es aus dem Repertoire unserer Verhaltensweisen streichen sollten. Und doch würde uns etwas fehlen.

Zugegeben: Wir wurden nicht als Leseratten geboren. Mit einem eigenen Gen dafür sind wir nicht ausgestattet. „Für die einzelnen Hirnfunktionen, die am komplexen Vorgang des Lesens beteiligt sind, sind eine ganze Reihe von Genen zuständig“, sagt Maryanne Wolf, die das Zentrum für Lese- und Sprachforschung an der Tufts-Universität in Boston leitet. Das Lesen ist das Lebensthema der Spezialistin für kindliche Gehirnentwicklung. In ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ (Spektrum Akademischer Verlag, 26 Euro 95) hat sie ihre Erkenntnisse zusammengefasst – als passende Lektüre für alle Eltern von Schulanfängern, die sich nach den großen Ferien dem Abenteuer der Alphabetisierung zuwenden.

Eine geistige Zuflucht sei das Lesen, schrieb Marcel Proust, die dem Menschen Zuflucht zu Tausenden von verschiedenen Wirklichkeiten biete. „Wir tauchen als eine andere Person aus diesem Prozess wieder auf“, ergänzte Wolf kürzlich bei einem Auftritt in Berlin.

Im englischen Original trägt ihr Buch einen poetischen Titel, der zu dieser Erkenntnis passt: „Proust and the Squid“, Proust und der Tintenfisch. Steht Proust für die fiktiven Welten, die das Lesen eröffnet, so steht der Tintenfisch für die Hirnforschung, denn in deren frühen Phasen war das Meerestier mit seinen langen Nervenfasern ein wichtiger Modellorganismus.

Wenn der Mensch lesen lernt, gehen in seinem Gehirn gewaltige Um- und Anbaumaßnahmen vor sich. Um zu erklären, was dabei passiert, stützt sich Wolf auf den Hirnforscher Stanislas Dehaene, der vom neuronalen Recycling spricht. Wir nutzen dabei die angestammte und von alters her dringend gebrauchte Fähigkeit unserer Gehirne, Gegenstände zu repräsentieren, wir münzen sie nur auf Symbole um. Unser Gehirn kann lesen lernen, weil es in der Lage ist, neue Verbindungen zwischen Schaltkreisen und Strukturen herzustellen, die ursprünglich für lebenswichtige Prozesse wie das Sehen oder auch das Sprechen zuständig waren. Im Lauf der Zeit spezialisieren sich ganze Gruppen von Nervenzellen, der Prozess läuft automatisch ab.

Das ist wichtig, denn nur wenn es schnell geht, nur wenn die Schriftzeichen in Windeseile und ganz automatisch mit einem Laut verbunden und zu Wörtern zusammengesetzt werden, bilden sich die begehrten Bedeutungen. Nur dann macht Lesen Spaß. „Man hat 100 bis 200 Millisekunden Zeit, um zu verstehen, was ein Wort ist“, sagt Wolf. Kein Wunder, wenn Leseanfänger noch keine Zusammenhänge erfassen: Sie sind zu sehr mit dem Vorgang des Lesens selbst beschäftigt. Wenn das allmählich besser wird, ehe sie den Mut verlieren, ist alles gut. „Beim Übergang vom korrekten Entziffern zum fließenden Lesen benötigt ein Kind oft von Herzen kommende Ermunterung von Lehrern, Betreuern und Eltern, um sich an anspruchsvolle Lektüre zu wagen.“

Alles beginnt dabei schon weit vor dem ersten Schultag, „in den 2000 Tagen, die das Gehirn eines kleinen Kindes auf das Lesenlernen vorbereiten“. Tage, in denen sie Sprache hören, sprechen lernen, vorgelesen bekommen, Erfahrungen mit Reimen und Sprachspielen sammeln, erste Buchstaben malen. „Lesen ergibt sich nie einfach nur so“, sagt Wolf. Die Ungerechtigkeit besteht vor allem bei der frühen Förderung.

30 bis 40 Prozent der Viertklässler in den USA lernen nicht, wirklich flüssig zu lesen. Eine niederschmetternde Zahl ist das schon deshalb, weil wenig später alle voraussetzen, dass das Kind lesen kann. Es wird in den höheren Schulklassen nicht mehr gelehrt, es ist Mittel zum Zweck geworden. Auch Kinder mit einer Leseschwäche, die das Pensum später aufholen, haben dann oft eine Geschichte von Demütigungen hinter sich.

„Was mich und meine Kollegen in der Legasthenieforschung frustriert, ist, dass dieser Kreislauf des Misserfolgs großenteils vermeidbar wäre“, schreibt Wolf. Dazu ist es nötig, schon bei Kindergartenkindern Besonderheiten zu erkennen, ehe daraus Probleme entstehen. Wolf erläutert genau, welche Vorgänge im Gehirn von Menschen anders ablaufen können, die sich beim Lesen schwer tun. Es gibt zeitliche Verzögerungen bei jedem Verarbeitungsschritt, vom visuellen Erkennen der Buchstaben bis zur Verarbeitung von Bedeutungen, es werden in einigen Fällen wohl aber auch andere, untypische und vor allem weniger effektive Leseschaltkreise im Gehirn angelegt.

„Die“ Legasthenie gibt es nicht. „Es wird nie eine einzige Hypothese geben, die alle möglichen Formen von Leseschwächen, insbesondere über mehrere Sprachen hinweg, erklären kann.“ Denn nicht zuletzt entscheiden Charakteristika der jeweiligen Landessprache darüber, an welcher Stelle Lese-Neulinge am ehesten Probleme bekommen werden. Auf all diese Unterschiede muss die Förderung sich einstellen, wenn sie wirken soll. Wo die Rechtschreibung relativ verständlich ist, wie etwa im Deutschen oder im Italienischen, ist weniger das Entziffern einzelner Wörter schwierig als das zusammenhängende, flüssige Lesen ganzer Texte.

Das aber ist es, worauf alles hinausläuft: Lesen, und dabei etwas aufnehmen, das als Bereicherung empfunden wird. Zuallererst sind das Informationen über die reale Welt. Als Bestandteil unserer Schriftkultur werden hier die elektronischen Medien immer wichtiger.

Maryanne Wolf macht sich denn auch keine Sorgen, dass die Menschheit so schnell das Lesen wieder verlernen könnte. Lese-Neulinge, die von Anfang an mehr in der digitalen Welt zu Hause sind als in der der Bücher, könnten ihrer Ansicht jedoch das deep reading verpassen, das tiefe Eintauchen in eine Welt der Buchstaben, deren Code wir knacken müssen, um mit dem Zugang zu anderen Welten belohnt zu werden. Dazu gehört in ihren Augen Zeit und Geduld.

Kein Lese-Gen sichert, dass unsere Nachkommen sich die nötige Muße nehmen werden. Falls sie sich zu Unrecht Sorgen mache, sei das wunderbar, sagte die engagierte Professorin in Berlin. „Ich mag mich irren, aber sicherheitshalber tue ich das lieber laut.“ Wolf plädiert dafür, ein Repertoire von Kulturtechniken aufzustellen, das wir der nächsten Generation unbedingt übermitteln wollen. Dafür sei es jetzt höchste Zeit. „Nie zuvor hat man die komplexe Schönheit des Lesevorgangs und die Vielfalt der damit verbundenen Leistungen wissenschaftlich so gut durchschaut wie heute. Und noch nie lief das Lesen so sehr Gefahr, von anderen Kommunikationsformen ersetzt zu werden.“

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