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Broiler-Gaststätte

© picture alliance / dpa

Deutsch-deutsche Unterschiede: Hier spricht man Ostdeutsch

„Kaufhalle“, „Plansilvester“, „Westberlin“: Mit dem Mauerbau wuchs die Angst vor einer Sprachspaltung. Nach der Wende entstand mitunter kommunikatives Chaos.

Als im August 1961 Soldaten der Nationalen Volksarmee Ost- von West-Berlin durch den Bau einer Mauer abriegelten, war die deutsche Teilung komplett vollzogen. Für den Germanisten Hugo Moser war es der Anlass, wenig später ein Seminar über „Sprache im geteilten Deutschland“ an der Uni Bonn zu halten. Schon immer hatte man in der Bundesrepublik dem Regime drüben „Begriffsverdrehungen“ und „Moskauderwelsch“ vorgeworfen. „Aber mit dem Mauerbau stand ein Schreckgespenst im Raum: Die in Beton gegossene Spaltung könne zur Sprachspaltung führen“, berichtet der 78-jährige Linguist Manfred W. Hellmann, damals Mosers studentische Hilfskraft.

Das "Neue Deutschland" und die "Welt" als Quellen

Nachdem Moser 1964 das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gegründet hatte, fragte er Hellmann, ob er an dem Thema weiterforschen wolle. So begann Hellmann zusammen mit einem kleinen Forscherteam, systematisch das Ostdeutsche zu analysieren und mit westdeutschem Sprachgebrauch zu vergleichen – im Kopf die warnende Frage, die der Romanist Victor Klemperer, Verfasser des „Notizbuchs eines Philologen – Lingua Tertii Imperii“ (also „Sprache des Dritten Reichs“), schon gleich nach Kriegsende gestellt hatte: Ob man etwa im Ausland in den Schaufenstern bald Schilder sehen werde: „Hier spricht man Ostdeutsch“, „Hier spricht man Westdeutsch“?

In 15 Jahren sammelten die Wissenschaftler über drei Millionen Wörter aus dem „Neuen Deutschland“ (DDR) und der „Welt“ (BRD) und verglichen sie untereinander und mit dem Vokabular weiterer Quellen. Einmal im Jahr fuhren sie in die DDR, um ihre Ergebnisse zu überprüfen und die Sprache der Einheimischen zu erkunden.

Und sie studierten die Duden in Ost und West. Die letzte gemeinsame Ausgabe war 1947 erschienen. Ein Jahr später war das Bibliographische Institut Leipzig zum Volkseigenen Betrieb (VEB) erklärt worden. So heißt es 1951 im Ost-Duden unter „Weltbürgertum“: „Als Weltbürgertum getarnte Ideologie der (…) Versklavung der Nationen zugunsten des Machtanspruchs des anglo-amerikanischen Imperialismus.“ Um die Teilung Berlins unsichtbar zu machen, nahm der Ost-Duden „West-Berlin“ den Bindestrich und schuf eine neue Stadt namens „Westberlin“ – wohin dessen Einwohner zu ihrem Ärger auch von den Schildern an der Transitstrecke verwiesen wurden.

Von Dienstleistungskombinat bis Zielprämie

Schon 1964 gab es im Ost-Duden beim Buchstaben A 400 Abweichungen vom Wortbestand des West-Dudens, 200 bei den Bedeutungserklärungen. Die beiden Duden schrieben aber auch bewusst voneinander ab, sagt Hellmann. Der West-Duden in Mannheim setzte in solchen Fällen den Zusatz „(DDR)“ hinter den Begriff, der Ost-Duden den Zusatz „(im kapitalistischen Wirtschaftssystem)“.

Die Wissenschaftler dokumentierten Neuschöpfungen, die das politische System der DDR beschrieben, wie „Volkskammer“, „Ministerrat“, „Staatsrat“, „Staatliche Plankommission“, oder die aus der sozialistischen Arbeitswelt stammten: „Dienstleistungskombinat“, „Brigadetagebuch“, „Zielprämie“, „Plansilvester“ (also die vorzeitige Erfüllung des Jahresplans durch einen Betrieb). Unterschiede im Sprachgebrauch zeigten sich zumal bei ideologiehaltigen Begriffen wie „demokratisch“, „fortschrittlich“ oder „Freiheit“, die im Osten auf einen marxistisch-leninistischen Bedeutungsumfang eingeengt wurden.

Überbordende Wiederholung, nervtötende Stereotypie

Ging es den Forschern zuerst um die bedeutungstragenden Wörter (Substantive, Adjektive, Verben), ergab die Auswertung durch den Computer bald auch markante Unterschiede bei abschwächenden Modifikatoren: „circa“, „etwa“, „annähernd“ oder „nach Ansicht von“ kamen in der Zeitungssprache im Westen weit häufiger vor als im Osten. Dort fanden sich hingegen verstärkende Adverbien wie: „umfassend“, „konkret“ und „breit“. So wurde ein Fünfjahrplan nicht einfach „erfüllt“, sondern „allseitig erfüllt“. Beliebt waren auch pathetisch steigernde Adjektive: „unerschütterlich (Reihen, Grundsätze, Solidarität)“, „unverbrüchlich (Freundschaft)“ oder „schöpferisch“ (Masseninitiative, Aneignung des Marxismus-Leninismus). „Der öffentliche Sprachgebrauch der DDR war eine Mischung aus Tribünenpathos und knöchernem Direktivenstil, gekennzeichnet durch überbordende Wiederholung und nervtötende Stereotypie“, erklärt Hellmann, der in Jahrzehnten fast 100 Publikationen zu dem Thema veröffentlicht hat.

"Nietenhose"? Inoffiziell obsiegten die "Jeans"

Während in der politischen und wirtschaftlichen Sphäre zahlreiche Begriffe Made in DDR zu finden waren, blieb die Terminologie der Naturwissenschaft, Technik, Medizin kaum vom System beeinflusst. Allerdings versuchte man, in der Computertechnologie zeitweise das Englische zu meiden, sagt Hellmann: Statt des in den Programmiersprachen der Sechziger und Siebziger üblichen ,go to’ lautete der Befehl in der DDR ,geh zu’. Englische Begriffe gelangten auch sonst nur selten in die DDR-Sprache, zu den Ausnahmen gehörte „Juice“ statt „Saft“. Die „Nietenhose“ hieß allerdings zuerst auch im Westen so, sagt Hellmann, im Osten blieb man offiziell dabei – inoffiziell obsiegte natürlich die „Jeans“. Aber auch russische Lehnwörter kamen selten vor. Die „Datsche“ gehört zu den wenigen Ausnahmen. Lehnprägungen waren weit häufiger (volkseigen, Kombinat, Held der Arbeit).

Im Osten ging Mutti noch kurz in die Kaufhalle

Im Jahr 1970 frohlockte Walter Ulbricht: „Sogar die einstige Gemeinsamkeit der Sprache ist in Auflösung begriffen. Zwischen der traditionellen deutschen Sprache Goethes, Schillers, Lessings, Marx’ und Engels’, die vom Humanismus erfüllt ist, und der vom Imperialismus verseuchten und von den kapitalistischen Monopolverlagen manipulierten Sprache in manchen Kreisen der westdeutschen Bundesrepublik besteht eine große Differenz. Sogar gleiche Worte haben oftmals nicht mehr die gleiche Bedeutung.“

Tatsächlich gab es in der DDR nicht nur auf der Ebene der Propaganda eigene Begriffe, sondern viele waren durchaus im allgemeinen Wortschatz fest verankert wie die „Kaufhalle“, die „HO“, der „Pioniernachmittag“ oder das „Muttiheft“. Und sagte man im individualistisch orientierten Westen gerne „ich“, sprachen Ostdeutsche lieber von „man“ und „wir“.

Auch auf der Ebene der Grammatik konnte die Bonner Forschergruppe Veränderungen beobachten, wenn auch nur sehr wenige. So wurde „informieren“ ohne „über“ und ohne Akkusativ verwendet: „Wie der Minister informierte.“ Auch „orientieren“ wurde anders verwendet, nämlich mit oder ohne Akkusativobjekt „(jemanden) orientieren auf etwas“ (im Sinne von: eine Marschroute vorgeben): „Der VII. Parteitag orientierte die sozialistischen Kollektive auf die qualitative und quantitative Erfüllung aller Produktionskennziffern.“

Das West-Deutsche wandelte sich in den Jahrzehnten der Teilung ebenso, vielleicht sogar stärker, da es ständig neue Anglizismen und Wortschöpfungen aus der Werbesprache (beispielsweise „unkaputtbar“) aufnahm.

Die Bürger distanzierten sich vom Jargon der Oberen

Ansonsten distanzierten sich die DDR-Bürger deutlich vom Jargon der Oberen. Sie flüchteten in Andeutungen, Ironie und bissige Witze. Die Kluft zwischen privater und öffentlicher Sprache sei weit größer gewesen als im Westen, sagt Hellmann und spricht sogar von einer „antrainierten Mehrsprachigkeit“. Der offizielle und der private Sprachgebrauch lagen dabei aber nicht einfach nebeneinander, sondern durchdrangen einander.

Wer die berüchtigte „Jahresendflügelpuppe“ erfunden hat, ob wirklich der volkseigene Handel in seinen Kataloglisten unter dieser Bezeichnung die Weihnachtsengel führte, konnte Hellmann nie aufklären. Eine offizielle Stelle, die systematisch neue Begriffe erfunden hätte, gab es in der DDR nicht. Offenbar hatte die Führung nicht die Hoffnung, auf diese Weise auf das Denken der Bürger einwirken zu können. Erich Honecker hatte schon 1973 erklärt, entscheidend für die Grenze zwischen der DDR und der BRD seien auch gar nicht Sprache und Kultur, sondern die „gegensätzliche Struktur der DDR und der BRD“.

Keine Sprachspaltung - aber kommunikatives Chaos

Tatsächlich kam es nicht zu der von Ulbricht erhofften „Sprachspaltung“, Deutsch blieb Deutsch. Aber die Summe der vielen sprachlichen und politischen Unterschiede, die die Systeme charakterisierten, führte – zusammen mit vielen nachvollziehbaren Enttäuschungen – trotzdem nach dem Mauerfall zu einem „kommunikativen Chaos“, wie Hellmann sagt. Die Ossis mussten ungezählte neue Vokabeln lernen. Statt „Kaderakte“ hieß es nun „Personalakte“, „Team“ statt „Kollektiv“, und eine „Bilanz“ war im Westen etwas anderes als im Osten. Eine Bewerbung schreiben, ein Vorstellungsgespräch führen, mit Vermietern verhandeln hatte man nicht gelernt.

Im Jahr 1991 fragte Emnid die Ostdeutschen nach drei Begriffen, die es in der DDR nicht gegeben hatte. Nur die Hälfte der Befragten wusste, was „Azubi“ bedeutet, 57 Prozent verstanden den Begriff „Demoskopie“ und nur 22 Prozent wussten mit dem Wort „Mehrwertsteuer“ etwas anzufangen. Im Westen war die Unkenntnis ostdeutscher Vokabeln aber weit größer: Nur 21 Prozent wussten damals, was ein „Broiler“ ist, 33 Prozent verstanden „Datsche“ und 38 Prozent „Sättigungsbeilage“.

"Ich bin Lehrer", sagen ostdeutsche Frauen

1200 bis 2000 ostdeutsche Begriffe sind nach der Wende überflüssig geworden, schätzt Hellmann, die meisten schon in den ersten fünf Jahren nach der Wende. Darunter auch solche, denen er noch unmittelbar nach der Wiedervereinigung vorhergesagt hatte, sie könnten vielleicht im Osten überleben. „Facharbeiter für Schreibtechnik“ statt West-Deutsch „Stenotypist/in“, „Feierabendheim“ statt und neben „Altenheim“, „Organ“ für Behörde, „Kaufhalle“ für Supermarkt. Zu den wenigen Begriffen, die sich tatsächlich auch unter West-Sprechern ausbreiten konnten, gehören „angedacht“, „abgenickt“, „in Größenordnungen“ oder das auch von Walter Ulbricht verwendete „Fakt ist“.

Bis heute kann man ostdeutsche Frauen sagen hören: „Ich bin Lehrer“, anstatt wie West-Frauen: „Ich bin Lehrerin“. Und noch immer meinen zumindest ältere Ostdeutsche etwas anderes, wenn sie von „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ sprechen, sagt Hellmann: Im Westen herrsche bei „Gerechtigkeit“ das semantische Konzept juristischer Gerechtigkeit oder der Chancengleichheit vor, während man im Osten dabei sozialer an Lebensgleichheit denke. „Solidarität“ sei in der DDR als Begriff für die kleinen Leute verwendet worden, die sich solidarisch gegen „die da oben“ zusammenschließen. Das gibt es im Westen auch, aber zunehmend verlangen auch Manager von ihren Belegschaften „Solidarität“ mit dem Unternehmen, zum Beispiel in Form von Lohnverzicht.

Bis heute neigten Ostdeutsche auch zu einem anderen Kommunikationsverhalten, nämlich wenn sie gegenüber vermeintlichen Autoritäten nicht so gerne ihre eigene Meinung verteidigen, sondern eher in stummer Abwehr verharren. Hellmann sieht ein solches Verhalten schon stark im Rückgang und rechnet damit, dass es bald ausstirbt, genauso wie sein eigenes Forschungsgebiet. Dass die (sprachliche) Vereinigung gelungen ist, sei jedenfalls das Ergebnis der „bravourösen Übernahme- und Anpassungsleistung vor allem der Ostdeutschen“.

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