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Gesprochene Gedichte als eigene Kunstform: Der österreichische Autor Ernst Jandl wurde für seine Lesungen bekannt. Er gehörte zu jenen deutschsprachigen Autoren, die sich von der Rhythmik amerikanischer Lyrik inspirieren ließen.

© Barbara Morgenstern/picture-alliance/ZB

Gedicht-Rhytmik: Dichtung und Daten

Literaturwissenschaftler und Informatiker entwickeln einen digitalen Rhythmus-Erkenner für moderne Gedichte.

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.“ Mit Goethes Erlkönig kommen die meisten Deutschschüler klar. Wie bei vielen älteren Gedichten ist das Schema relativ leicht zu bestimmen: regelmäßiges Versmaß, regelmäßige Reime – wenn man das Gedicht aufsagt, hebt und senkt sich die Stimme. Das empfanden viele Lyriker aber seit Ende des 19. Jahrhunderts als „Geleier“. Seitdem entstehen moderne Gedichte, die aus freien Versen bestehen, anscheinend ohne Metrik oder festgelegten Rhythmus.

Zumindest sei diese Annahme bei Germanisten in Deutschland weit verbreitet, erläutert Burkhard Meyer-Sickendiek. Der Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin beschäftigt sich intensiv mit moderner Lyrik in Deutschland und den USA. „Seit den 1960er Jahren hat sich in den USA eine eigene Rhythmustheorie für moderne Lyrik entwickelt“, erläutert er. „Aber in Deutschland hat man davon einfach keine Kenntnis genommen.“ Meyer-Sickendiek will beweisen, dass auch moderne Lyrik eine Reihe fester Rhythmus-Muster verwendet – als Weiterentwicklung der traditionellen Metrik. Außerdem möchte er zeigen, wie stark sich deutsche Lyriker von der Rhythmik moderner amerikanischer Gedichte inspirieren ließen.

Burkhard Meyer-Sickendiek wählte dafür eine Methode, die für Geisteswissenschaftler eher ungewöhnlich ist. Statt sich auf die eigene Analyse und Interpretation zu verlassen, suchte er nach einem Informatiker, der mit ihm gemeinsam einen digitalen Gedichtrhythmus-Erkenner entwickelt. In Timo Baumann von der Universität Hamburg fand er einen Spezialisten für Spracherkennung und Sprechmelodie. Der Informatiker hat ein Faible für Außergewöhnliches in der Sprache. „Wenn ein Dichter einen genialen Vers formuliert, der keinem bisherigen Schema folgt, dann ist das eine Herausforderung für den Computer. Er hat keine Möglichkeit, diesen Vers mit bekannten Mustern abzugleichen“, sagt er.

Timo Baumann ist zwar kürzlich an die Carnegie Mellon University im US-amerikanischen Pittsburgh gewechselt, will aber das Team von Burkhard Meyer-Sickendiek und seinen Nachfolger im Projekt, den Informatiker Hussein Hussein an der Freien Universität Berlin, bei der Weiterentwicklung des Rhythmus-Erkenners weiterhin unterstützen.

Eine der größten Sammlungen von Hörgedichten ist Projektpartner

Für das Projekt „Rhythmicalizer. A digital tool to identify free verse prosody“ reicht es nicht, Gedichte zu digitalisieren. Das Team muss dem Computer zunächst beibringen, was ein Rhythmus überhaupt ist und wie er ihn erkennen kann. Dafür bedarf es möglichst vieler Beispiele. Meyer-Sickendiek konnte Lyrikline, eine der weltweit größten Sammlungen von Hörgedichten, als Partner gewinnen. Die Datenbank birgt einen Schatz: Alle 10 000 Gedichte sind von den Dichtern selbst eingesprochen worden. Betonungen, Pausen, Tempowechsel können die Wissenschaftler dem Computer also in einer Idealform präsentieren, so wie etwa der amerikanische Lyriker Ezra Pound oder der Österreicher Ernst Jandl ihre Gedichte mit eigener Betonung lasen. Die Gedichte werden dann noch einmal mit einer speziell für das Forschungsprojekt erstellten zweiten Version verglichen: Bei dieser ist die Betonung so neutral, als würde ein Nachrichtensprecher die Texte ablesen.

Als erstes kombinieren die Informatiker drei Programme, mit denen die Gedichte visualisiert und analysiert werden können. Dann „füttert“ Burkhard Meyer-Sickendiek den Computer mit etwa 40 ausgewählten Rhythmusmustern. Das sind zum Beispiel Synkopen, die sich moderne Lyriker aus dem Jazz oder dem Hip-Hop abgeschaut haben. Oder Atemmuster aus der Alltagssprache. Die Programme lernen nach und nach diese Rhythmen in möglichst vielen Gedichten wiederzuerkennen. In einem zweiten Schritt – und hier wird es für die Informatiker interessant – soll der Computer sogar Muster erkennen, die dem menschlichen Literaturwissenschaftler gar nicht auffallen. Deep Learning nennt sich dieser neue Ansatz in den digitalen Geisteswissenschaften.

Mit Hilfe der Menschen wird die Maschine klüger

Doch wie soll der Computer wissen, ob er gerade einem genialen Einfall von Ezra Pound auf der Spur ist – oder einem Datenfehler? Dafür braucht die Maschine den Menschen. Die Literaturwissenschaftler überprüfen ungewöhnliche Ergebnisse des Computers und geben ein entsprechendes Feedback. Die Maschine absolviert quasi ein literaturwissenschaftliches Studium, um später eigenständig forschen zu können.

Das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt ist zunächst auf drei Jahre angelegt. Burkhard Meyer-Sickendiek plant, den Rhythmus-Erkenner als Werkzeug für die Textanalyse kostenfrei zugänglich machen. In den Geisteswissenschaften hätten solche unter Anleitung lernenden Programme großes Potenzial, sagt Timo Baumann. Sie könnten etwa Merkmale finden, die bestehenden Theorien widersprechen: „Der Computer wirft neue Fragen auf und hilft bei der Modellbildung. Aber dazu muss man als Wissenschaftler bereit sein, ein Stück der eigenen Deutungshoheit abzugeben.“

Stefanie Hardick

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