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Der Boxer Wladimir Klitschko gilt nicht gerade als Gesicht der Fettepidemie. Laut BMI ist er aber deutlich übergewichtig.

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Dick und gesund: Lob des Übergewichts

Laut Statistik sind die meisten Deutschen zu schwer. Der Grund ist ein zu hoher Body-Mass-Index. Aber sind wir wirklich zu dick? Studien zeigen: Wer übergewichtig ist, lebt häufig länger als ein Normalgewichtiger.

Wenn Sie die 45 überschritten haben, dann kann es gut sein, dass Sie, wie der Autor dieser Zeilen, übergewichtig sind. Vielleicht sogar adipös, also fettleibig. Jeder zweite Mann jenseits des 45. Lebensjahres hat Übergewicht, jeder fünfte ist fettleibig. Macht zusammen 70 Prozent. Dünn ist die Ausnahme. Kaum besser sieht es bei den Frauen aus. Ab 65 sind 60 Prozent zu schwer (knapp 40 Prozent der Frauen sind übergewichtig, 20 Prozent adipös). Übergewicht in diesem Alter ist normal.

„Diese Entwicklung ist äußerst bedenklich, da Übergewicht die Entwicklung vieler chronischer Krankheiten begünstigen kann“, mahnt das Robert-Koch-Institut. Aber Übergewicht muss nicht schädlich sein. Mehr noch: Vieles spricht dafür, dass Menschen mit leichtem Übergewicht häufig länger leben als Normalgewichtige.

Wer übergewichtig ist und wer nicht, das bestimmt der Körpermasse-Index (Body-Mass-Index, BMI). Er wird ermittelt, indem das Körpergewicht in Kilogramm durch das Quadrat der Körpergröße (in Metern) geteilt wird. Als Normalgewicht gilt ein Wert von 18,5 bis unter 25, Übergewicht hat man bei einem BMI von 25 bis unter 30, Fettleibigkeit, Adipositas, beginnt bei einem BMI von 30. So weit, so klar – oder?

Fettleibigkeit habe sich in Europa seit den 80er Jahren mindestens verdreifacht, die „Seuche“ breite sich „besonders unter Kindern mit alarmierender Geschwindigkeit aus“, schreibt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Verfettung Europas sei „eine nie da gewesene gesundheitspolitische Herausforderung“. Laut einer Studie in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts „Lancet“ sind 1,5 Milliarden Erwachsene übergewichtig, weitere 500 Millionen fettleibig, hinzu kommen 170 Millionen Kinder mit Gewichtsproblemen.

In großen Teilen der Welt werden die Menschen schwerer. Auch bei uns? Das Landesgesundheitsamt Brandenburg hat den Anteil der fettleibigen Kinder bei der Einschulung von 1994 bis 2006 ermittelt und konnte keine Zunahme feststellen.

Auch bei Erwachsenen lässt sich kein deutlicher Aufwärtstrend erkennen. Nach Umfragen unter Bundesbürgern im Alter von 25 bis 69 Jahren nahm in der Zeit von 1984 bis 2003 Übergewicht und Fettsucht insgesamt bei Männern um vier und bei Frauen um zwei Prozent zu. Das ist hart an der Grenze üblicher statistischer Schwankungen, wenn es auch Hinweise darauf gibt, dass der Anteil der besonders Dicken größer wird.

Die WHO warnt vor den gesundheitlichen Schäden durch Übergewicht und Adipositas, spricht von einer Million Todesfällen in Europa pro Jahr. Aber wie hängen eigentlich Lebenserwartung und Übergewicht zusammen? Ein Blick in die Statistik der WHO offenbart irritierende Details. Die „magersten“ Länder Turkmenistan und Usbekistan haben eine deutlich geringere Lebenserwartung (65 und 68 Jahre), das besonders „fette“ Großbritannien ebenso wie das im Mittelfeld rangierende Deutschland mit 80 Jahren eine hohe Lebenserwartung, Tendenz weiter steigend. Die Verhältnisse sind also komplizierter als gedacht.

Es ist völlig unstrittig, dass ausgeprägte Fettleibigkeit ein erheblicher Risikofaktor für Typ-2-Diabetes (Alterszucker), Bluthochdruck, Herzleiden und etliche andere Krankheiten ist. Umstritten ist jedoch die Frage, wie schädlich „leichtes“ Übergewicht (BMI bis 30) wirklich ist. Große Studien belegen, dass die Sterblichkeit bei jenen Menschen am geringsten ist, die einen BMI von etwa 25 haben, also an der Grenze zum Übergewicht liegen. Typisch für viele Studien ist eine U-förmige oder eine Hockeyschläger-Kurve: Die Sterblichkeit sinkt steil von einem relativ hohen Niveau im Bereich des Untergewichts auf einen Wert um 25, um dann sanft in Richtung Übergewicht anzusteigen.

Häufig zeigt sich sogar, dass Übergewicht günstiger fürs Überleben ist als Normalgewicht. Wie in einer Auswertung der amerikanischen NHANES-Untersuchung, die Katherine Flegal von der US-Seuchenbehörde CDC 2007 im Fachblatt „Jama“ veröffentlichte. Verglichen mit dem Normalgewicht war die Sterblichkeit bei Untergewichtigen und Adipösen deutlich erhöht – und bei Übergewichtigen (BMI bis 30) erniedrigt.

In Asien hatte die WHO eigentlich erwogen, die Grenzen für Übergewicht und Fettsucht noch weiter herunterzuschrauben. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass viele Asiaten einen höheren Anteil an Körperfett haben und Diabetes, Bluthochdruck und Fettstoffwechsel-Störungen schon bei einem relativ niedrigen BMI häufiger auftreten. Aber Studien weisen in eine andere Richtung: Auch in Asien haben Menschen mit einem BMI an der Grenze zum Übergewicht die besten Überlebenschancen. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Inder und Bangalen macht ein hoher BMI wenig aus. Selbst Fettsucht verkürzt ihr Leben nicht.

All diese Befunde hätten eigentlich Gesundheitsorganisationen dazu bringen müssen, die gängige Definition des Übergewichts zumindest zu überdenken. Zwar kursieren auch an das Lebensalter angepasste „inoffizielle“ BMI-Tabellen, die Älteren ein paar Pfunde mehr gönnen. Aber Organisationen wie die WHO halten starr am Norm-BMI von 25 fest. Damit ist per Definition ein Großteil der Menschheit zu schwer.

Die mathematische Regelmäßigkeit der BMI-Fünferschritte 25 – 30 – 35 mag den Statistiker erfreuen, der biologischen Realität des Menschen wird sie nicht gerecht. In jungen Jahren gelingt es vielen Bundesbürgern, noch im Normbereich zu bleiben. Doch jenseits der 30 legen Männer und zehn Jahre später Frauen an Gewicht zu. Ein 20-jähriger hat eine andere Statur als ein reifer Mann. Das ist nicht von vorneherein krankhaft. Im Gegenteil: im Alter, so zeigen viele Studien, gehen Überleben und höheres Körpergewicht Hand in Hand. Wer betagt und zu leicht ist, stirbt eindeutig früher.

Es ist nicht nur die enge und willkürliche Auslegung des BMI, die ein Problem darstellt. Auch der Messwert selbst hat seine Tücken. Er berücksichtigt lediglich Körpergröße und Gewicht, nicht aber den Körperbau. Muskeln wiegen mehr als Fettgewebe. Das führt dazu, dass athletische und trainierte Männer „zu schwer“ sind – obwohl Sport gesund ist und ein „fitter Fetter“ gesundheitlich oftmals besser dran ist als ein magerer Bewegungsmuffel. Laut BMI leidet Muskelprotz Arnold Schwarzenegger unter krankhafter Fettsucht, Box-Weltmeister Klitschko wäre übergewichtig. Selbst Schauspieler wie Will Smith, Johnny Depp oder Brad Pitt müssten dringend abnehmen.

Lesen Sie auf Seite 2: Bauchfettmessung statt BMI

Eine Alternative zum BMI ist die Messung des Bauchumfangs. Untersuchungen ergaben, dass die Sterblichkeit und die Gefahr von Herz-Kreislauf-Leiden mit dem Bauchumfang zunehmen, ganz unabhängig vom BMI. Bei Männern steigt das Risiko ab einem Umfang von 102 Zentimetern deutlich an, Frauen sind schon mit 88 Zentimetern Bauch dabei.

Grund dafür ist das innere Bauchfett. Es erhöht das Risiko für Herz- und Kreislaufleiden. Das äußere ermöglicht den Rückschluss auf das innere Bauchfett. Je mehr Speckrollen, umso größer die Gefahr. Das gilt vor allem bei einem bauchbetonten apfelförmigen Körperbau (typisch für Männer), weniger bei einem birnenförmigen, bei dem sich Fett eher an Hüften und Schenkeln sammelt (typisch für Frauen). Wer einen normalen BMI, aber einen stattlichen Bauch hat, kann sich also in falscher Sicherheit wiegen.

Eigentlich war der BMI als Gradmesser für Sozialmediziner und Versicherungen gedacht, um den Ernährungs- und Gesundheitszustand der Bevölkerung zu untersuchen und Trends zu ermitteln. Dass er nun von jedermann zur persönlichen Risikobewertung herangezogen wird, verschleiert, wie wenig aussagefähig er in einem weiten mittleren Spektrum vom Normalgewicht bis zu leichter Fettsucht ist.

Der BMI kennt weder Geschlecht, Hautfarbe, Alter noch andere wichtige Besonderheiten. Spätestens wenn es um den Gesundheitszustand des Einzelnen geht, heißt es deshalb, die BodyMass-Norm zu relativieren. Dabei erleben Ärzte manchmal handfeste Überraschungen. Wie der Fettsucht-Spezialist Arya Sharma von der Universität von Alberta im kanadischen Edmonton. Sharma hat es mit extrem fetten Patienten zu tun, denen oft nur noch eine Magenverkleinerung helfen kann. Menschen, die nicht selten einen BMI von 50 haben.

Der Arzt hat ein Stufensystem entwickelt, mit dem bewertet werden kann, wie dringend eine Operation ist. Es schließt neben dem BMI auch Folgen der Fettsucht ein, etwa Bluthochdruck, Diabetes, Cholesterin, Atemnot und psychische Probleme. „Die meisten Kollegen dachten, es sei sinnvoll, alle Patienten ab einem bestimmten BMI zu operieren“, sagt Sharma. „Aber wir stellten fest, dass mancher Patient mit erheblicher Fettsucht erstaunlich gesund war. Und dann gab es Patienten, die einen viel geringeren BMI hatten und richtig krank waren."

Man kann also dick und gesund sein. Und eben dann kann der Wunsch nach einem niedrigen BMI, kann eine Diät eine schlechte Idee sein. „Die Patienten verlieren zwar zunächst an Gewicht, aber das kehrt nach ein paar Monaten wieder zurück – wie ein Gummiband, das wieder zurückschnappt, nachdem man es gedehnt hat“, berichtet Sharma. Leichter ist es, sich einen gesunden Lebensstil zuzulegen, mit viel Bewegung, ausgewogener Ernährung und einem guten Stressmanagement. Dann müssen auch ein paar Kilo mehr kein Problem sein.

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