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Wissen: Die Schöpfung noch einmal denken

Nach 70 Jahren vollendet die Leopoldina ihre Gesamtausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft

Über den Eisenbahnverkehr hat sich Goethe, anders als manche meinen, noch nicht geäußert, aber die Neue Welt war ihm bereits Bezugspunkt. Dass Goethe sich über New York ausgelassen hat, ist schwarz auf weiß nachzulesen und kann nunmehr auch mit allen textkritischen Instrumenten seziert werden: Die Leopoldina-Ausgabe (LA), die von der Akademie der Naturforscher Leopoldina zu Halle an der Saale herausgegebene Gesamtausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft – man beachte den Singular! –, hat mit der Veröffentlichung des Doppelbandes 11 ihren würdigen Abschluss gefunden. Dort werden unter anderem die Aphorismen nachgewiesen, in denen sich Goethe heiter-distanziert mit der Wissenschaft auseinandersetzt. Auch „New-York“, wie er es schreibt, kommt vor. Im hohen Alter hat er die Aphorismen 1831 vollständig neu geordnet, wenn auch nach eigenen und nicht nach nüchtern-editorischen Prinzipien. Das wurde den Nachgeborenen zum Problem.

Die haben seit genau 70 Jahren mit der Aufarbeitung seines naturwissenschaftlichen Nachlasses zu tun. Goethe war seit 1818 Mitglied der Leopoldina, als anerkannter Naturforscher, als der er sich selbst zeitlebens begriff. Oder doch zumindest seit der Rückkehr aus Italien und dem Ende seiner jugendlich-bewegten Lebensphase. In Weimar reifte er zum Olympier, als den ihn kommende Generationen verehrten, bis hin zu dem Diktum Hugo von Hofmannsthals von 1922, „Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und andere Ansätze.“

Doch hätte das Hofmannsthal’sche Diktum je auch für Goethe den Naturwissenschaftler formuliert werden können? Das fragte Jörg Hacker, Präsident der Leopoldina, bei der Festveranstaltung zum Abschluss der 29 Textbände und 16 782 Seiten umfassenden Goethe-Ausgabe. Damit berührte er den wunden Punkt, ohne ihn auszusprechen: nämlich, dass Goethes Naturanschauung, anders als seine unvergängliche Dichtkunst, wohl mit ihm selbst ins Grab gesunken ist.

Lässt sich denn Goethe als Naturforscher allenfalls historisch betrachten? Die ganzheitliche Betrachtung der Natur, die für Goethe eben nicht emotionslos zu zerteilen und zu quantifizieren war, findet heute wieder mehr Beachtung, da die analytisch-experimentelle und in jeder Hinsicht wertfreie Wissenschaft an ihre Grenzen gestoßen ist. „Die Natur, so mannichfaltig sie erscheint, ist doch immer ein Eines, eine Einheit“, betont Goethe immer wieder, hier in einem Zitat von März 1807, abgedruckt im ersten Teil des jetzt vorgestellten Bandes.

Es hat also seine Ironie, dass ausgerechnet die ehrwürdige, 1652 begründete Akademie der Naturforscher in den Arbeiten ihres Mitglieds Goethe eine Auffassung würdigt, die sich gegen ihr eigenes Selbstverständnis, hervorgegangen aus der Entwicklung seit Goethes Tagen, sperrt. Sei’s drum. Mit der Einrichtung einer Sektion für Wissenschafts- und Medizingeschichte im Jahr 1932 – passenderweise im Jahr von Goethes 100. Todestag – hatte die Leopoldina den Ort geschaffen, an dem sie sich mit Goethe historisch beschäftigen konnte. 1941 mündete der lang erwogene Plan einer naturwissenschaftlichen Goethe-Ausgabe in einem Vertrag mit dem ortsansässigen und durch die Weimarer Goethe-Gesamtausgabe ausgewiesenen Verlag Böhlau, der bis auf den heutigen Tag die LA-Edition betreut.

Ihr erster Band erschien allerdings erst zu DDR-Zeiten. Leopoldina-Präsident Hacker sieht in diesen zeitgeschichtlichen Umständen des „anscheinend unpolitischen Vorhabens ein Sinnbild für die Fähigkeit der Wissenschaft, auch unter widrigen Umständen ihre Maßstäbe aufrechtzuerhalten“. Als leibhaftiger Beleg für die Widerstandsfähigkeit der wissenschaftlichen Werte wurde am Freitagabend in Weimar Dorothea Kuhn begrüßt und gefeiert, die 1952 zum Editionsteam stieß und nun im rüstigen Alter von 88 Jahren den Abschluss der LA erlebt. In der Einleitung zu dem am Freitagabend in Weimar als dem Wohn- und Arbeitsort Goethes vorgestellten Band II/1, „Ergänzungen und Erläuterungen. Zur Naturwissenschaft im allgemeinen“, lässt sie die Absurditäten Revue passieren, die die Arbeit von überwiegend westdeutschen Mitarbeitern mit in Ostdeutschland bewahrten Schriften und Archivalien begleitete.

Goethe, dieser Weimarer uomo universale, verstand „die“ Naturwissenschaft noch als Einheit, vom Einzelnen noch durchaus zu meistern. Ganz besonders hatte es ihm die Optik angetan, was sich in seiner umfänglichen, in der Auseinandersetzung mit Newton entstandenen „Farbenlehre“ äußert. Doch ebenso interessierten ihn Geologie und vor allem Mineralogie, wovon Abertausende Gesteinsproben in seiner Sammlung zeugen. Nur die Morphologie, die Lehre von der Gestalt und den Formen der Natur, ist innerhalb des heutigen Kanons der Naturwissenschaften weitgehend verblasst. In den „Morphologischen Heften“ veröffentlichte Goethe seine Abhandlung über den Zwischenkieferknochen, den er bereits 1784 bei seinen anatomischen Studien entdeckt hatte, doch stets im größeren Zusammenhang der „Metamorphose“ der Formen gesehen wissen wollte.

Die Edition der naturwissenschaftlichen Schriften stellte eine Herausforderung dar, die sich wohl nur unter den Bedingungen eines noch nicht bis ins Letzte in Max Weber’schem Sinne „rationalisierten“ Wissenschaftsbetriebs meistern ließ. Denn das Goethe’sche Material sperrte sich gegen jede vorgefasste Bearbeitung. „Die chronologische Ordnung war von Goethe ganz außer Acht gelassen worden!“, schreibt Dorothea Kuhn: „Er hatte aus seinen Schubladen gezogen, was ihm hier (...) vorlag und auch noch Neues dazugegeben.“ Die ältere Goethe-Gesamtausgabe hatte sich nicht immer der strengen Chronologie unterworfen, so dass für die LA von Grund auf neu geordnet werden musste. Erst mit den Bänden mit der Geschichte der Farbenlehre Ende der fünfziger Jahre „schien uns die historisch-kritische Edition erreicht zu sein“, so Kuhns trockene Beschreibung dessen, was tatsächlich ein langer Kampf um die angemessenen Editionsprinzipien gewesen ist.

Gerade der nunmehr vorliegende, von der aus Freiburg hinzugekommenen Germanistin Jutta Eckle in den zurückliegenden acht Jahren erarbeitete Abschlussband gibt in der Fülle seiner chronologisch geordneten Materialien einen Einblick in die staunenswerte Fülle der Gegenstände, mit denen Goethe sich beschäftigte. Und zugleich der Gesprächspartner, mit denen er sie erörtert. Ganz nebenbei blitzt das Gesellschaftsleben der kleinen Residenzstadt Weimar auf. So, wenn Goethe an Alexander von Humboldt schreibt, 1807 und damit bald nach dem epochalen Sieg Napoleons im Vorjahr bei Jena und Auerstedt: „Denn die durch den Krieg unterbrochnen Unterhaltungen am Mittwoch, bei welchen ich unserer verehrten regierenden Herzogin, der Prinzessin und einigen Damen bedeutende Gegenstände der Natur und Kunst vorzulegen pflege, haben wieder ihren Anfang genommen, und ich finde nichts interessanteres und bequemeres, als Ihre Arbeiten dabei zum Grunde zu legen und das Allgemeinere anzuknüpfen“.

Goethes Schriften seien eine Anleitung, „die großen Gedanken der Schöpfung noch einmal zu denken“, sagte am Freitagabend der Literaturwissenschaftler Uwe Pörksen. Wenn das keine Aufforderung an eine Akademie der Naturforscher ist! Für Goethe war der Schritt von der Wissenschaft hinüber zur Dichtung ein kleiner. In den „Wahlverwandtschaften“ hat er eine Art chemischer Versuchsanordnung auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Und um dies beiläufig anzudeuten, lässt Goethe den Romanhelden Eduard zur abendlichen Unterhaltung lesen – in einem Lehrbuch der Chemie. Was wir nunmehr aber haben – endlich haben –, ist die Gesamtheit des Goethe’schen Werks betreffs „der“ Naturwissenschaft, die für ihn eine ungeteilte war, wie eben die Natur selbst.

Dorothea Kuhn, Wolf von Engelhard, Irmgard Müller (Hrsg.): Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft (Leopoldina). Zweite Abteilung: Ergänzungen und Erläuterungen. Band 1: Zur Naturwissenschaft im allgemeinen. Bearbeitet von Jutta Eckle. 2 Teilbände, zus. LVIII, 1654 S., Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 2011, 199,95 €.

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