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Irreführend. Mit dem Ultraschall findet man auch Krebsarten, die eigentlich nicht behandelt werden müssten - etwa Geschwülste in der Schilddrüse.

© IMAGO

Schilddrüsenkrebs: Die Ultraschall-Epidemie

Je früher ein Tumor erkannt wird, desto besser? Das Beispiel Schilddrüse zeigt, dass das nicht unbedingt der Fall ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Die Schilddrüse ist ein zierliches Organ. Die meisten Menschen werden von ihr keine Notiz nehmen und vielleicht gar nicht wissen, wo sie liegt (schmetterlingsförmig unterhalb des Kehlkopfs). In der Regel versieht die Drüse ohne großes Tamtam ihren Dienst, erst recht, seitdem der früher in Süddeutschland verbreitete Jodmangel-Kropf viel seltener geworden ist – dank jodiertem Speisesalz.

Aber die Schilddrüse hat auch ein dunkles Geheimnis. Sie neigt, typisch Drüse, zu Wucherungen („Knoten“), gutartigen wie bösartigen. Untersucht man die Schilddrüsen Verstorbener, findet man in jeder dritten kleine Krebsgeschwülste. Lauert da ein Problem? Eigentlich nicht, denn diese „schlafenden“ Minitumoren haben zu Lebzeiten keine Rolle gespielt. Es war Krebs, aber er war ungefährlich, eine Art Haustierkrebs. Wer tatsächlich wegen Schilddrüsenkrebs behandelt werden muss, hat zudem gute Karten. Die Heilungsraten sind hoch, neun von zehn Patienten überstehen die ersten fünf Jahre. Lediglich 0,3 Prozent der Krebstodesfälle in Deutschland sind auf bösartige Schilddrüsentumoren zurückzuführen.

Ein Krebsanstieg um fast das 30-fache

Allerdings verzeichnen die Industrienationen seit Jahren einen starken Anstieg von Schilddrüsenkrebs. In Deutschland verdoppelte sich die Erkrankungsrate zwischen 1998 und 2012. Am extremsten ist die Ausbreitung in Südkorea. In den letzten beiden Jahrzehnten hat dort die Häufigkeit um fast das 30-Fache zugenommen. Die Ursache dieser globalen Krebsepidemie ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht irgendein Schadstoff oder geheimnisvolles Tumorvirus, sondern die Medizin selbst. Hochgenaue Ultraschallgeräte und Früherkennungsprogramme haben eben jene „Haustierkrebse“ aufgespürt, von denen vorhin die Rede war. Und während die Zahl der Erkrankungen in die Höhe schoss, blieb die der Todesopfer gleich oder ging sogar leicht zurück (wie in Deutschland). Zugespitzt gesagt: Nicht eine neue Gefahr ist das Problem, sondern die Diagnose. Sie ist die Krankheit.

Dass die Diagnose krank machen kann, ist (übertriebener) Therapie geschuldet. In Südkorea ist Schilddrüsenkrebs inzwischen der häufigste Tumor. Wie am Fließband wird das Organ dort operiert und dabei zumeist entfernt. Die solcherart „Geheilten“ müssen täglich die für den Stoffwechsel wichtigen Schilddrüsenhormone ersetzen. Zudem kann die Operation zu Problemen mit dem Kalziumstoffwechsel und zu Stimmbandlähmungen führen. Ganz abgesehen von allgemeinen OP-Risiken wie Blutgerinnseln in Herz, Lungen und Hirn.

Je früher erkannt desto besser? Das muss nicht sein

Das Credo lautet: Je früher ein Krebs erkannt wird, desto besser. Das krasse Beispiel Schilddrüse zeigt, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Das Ergebnis fragwürdiger Früherkennung sind erhebliche Überdiagnose und Übertherapie. Ähnlich problematisch ist die mithilfe eines Bluttests mögliche Früherkennung von Prostatakrebs. Auch hier handelt es sich häufig um einen Haustierkrebs, dessen Entfernen eher Probleme macht, als sie aus der Welt zu schaffen. Und viel öfter als früher wird der schwarze Hautkrebs, das Melanom, festgestellt. In den letzten 20 Jahren haben sich die Diagnosen für Prostatakrebs und Melanom fast verdoppelt, doch die Zahl der Todesfälle durch diese Tumoren ist praktisch konstant. Das legt den beunruhigenden Schluss nahe, dass mehr harmlose Geschwülste erkannt werden, während die brandgefährlichen Tumorvarianten tödlich sind wie eh und je – und durch die Früherkennung bisher nicht auszuschalten sind.

In Korea hat das Umdenken begonnen. Vor knapp zwei Jahren formierte sich eine Gruppe von Ärzten, um der Überdiagnose von Schilddrüsenkrebs entgegenzutreten. Eine öffentliche Debatte setzte ein, die Medien griffen das Thema auf. Und schlagartig ging die Zahl der Schilddrüsen-Operationen um mehr als ein Drittel zurück, wie ein Bericht im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ vor Kurzem dokumentierte. Diese erfreuliche Zurückhaltung beruht vermutlich hauptsächlich darauf, dass Schilddrüsenkrebs nun seltener festgestellt wird. Womöglich hat man in Korea die Selbstkritik des Radiologen John Conran von der Brown-Universität zur „Flut“ kleiner, nicht tastbarer Schilddrüsentumoren beherzigt. „Ist es an der Zeit, die Ultraschallgeräte auszumachen?“, fragte sich Conran im Fachblatt „Radiology“.

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