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Ungeheure Weite. Aus 1,5 Milliarden Kilometer Entfernung machte die Raumsonde "Cassini" dieses Bild von Erde und Mond.

© Nasa

Wissenschaft als Kunst: Ein Bild von der Einsamkeit im All

Kann Wissenschaft Kunst sein? Aber sicher doch! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Das Foto ist auf den ersten Blick wenig spektakulär. Man sieht eine große mattblaue Fläche. Ein großes Blau. Darin zwei Bildpunkte, der eine etwas größer, der kleinere etwas rechts unterhalb des größeren. Zwei Punkte im Blau, mehr nicht. Es sind Erde und Mond. Die Aufnahme entstand am 19. Juli 2013 aus 1,5 Milliarden Kilometer Entfernung. Gemacht wurde sie von der Raumsonde „Cassini“, die den Saturn umkreist und mit dem Bild einen Blick zurück auf ihre einstige Heimat warf.

Mit dem Wissen um das Abgebildete bekommt der Schnappschuss eine andere Dimension. Jetzt wirkt er beklemmend. Die Erde und ihr toter Trabant, mutterseelenallein im weiten Nichts, ohne den bei diesen Aufnahmen typischen Teppich aus Sternen, der Halt und Trost zu geben scheint. Man muss lange suchen, um ein Kunstwerk zu finden, das ähnlich beeindruckend Einsamkeit und Verlorenheit verkörpert. Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ von 1824, auch bekannt als „Die gescheiterte Hoffnung“, ist so ein Bild. Es zeigt ein in der polaren Eiswüste zermalmtes Schiff. Eindrucksvoll, aber auch überladen. Wozu der deutsche Romantiker Friedrich viele Pinselstriche brauchte, genügen „Cassini“ eine Handvoll Pixel.

Die "blaue Murmel" wurde zur Ikone der Umweltbewegung

Kann Wissenschaft Kunst sein? Mehr noch: Erschafft die Wissenschaft nicht inzwischen größere Kunst als manche hauptberuflichen Künstler? Wirkmächtiger sind ihre Bilder vermutlich längst. Etwa das Foto der „blauen Murmel“, der „blue marble“, aufgenommen von der Crew der „Apollo 17“ am 7. Dezember 1972. Es zeigt die Erde in bis dahin ungekannter und ungeahnter Schönheit. Die Umweltbewegung hätte ohne dieses Bild vom kostbar-verletzlichen Blauen Planeten nicht ihre heutige Bedeutung gewonnen. „Blue marble“ ist unterdessen so etwas wie die Mona Lisa der Wissenschaftskunst geworden: ein vom übermäßigen Gebrauch abgenutztes Bild.

„Wissenschaft hat den höheren Zweck der Kunst ersetzt, nämlich Geist und Vorstellungskraft zu bereichern und zu erweitern und die Schönheit der Existenz zu offenbaren“, schrieb Jonathan Jones, Kunstkritiker des „Guardian“, zum Thema. Sowohl ästhetisch als auch intellektuell haben die Naturwissenschaften aus seiner Sicht die Kunst überflügelt. Jones’ Provokation blieb nicht unerwidert. So wurde ihm entgegengehalten, dass Wissenschaft lediglich eine Methode sei. Nicht die Wissenschaft, sondern die Natur sei schöner als die Kunst, müsse die These des Kritikers korrekt lauten. Das aber sei banal, ein überlebtes romantisches Klischee.

Leonardo und Düren wollten die Welt begreifen

Einspruch! In der Entwicklung der Kunst gab es immer wieder Künstler, die mindestens ebenso Wissenschaftler waren. Das beste Beispiel ist die Renaissance, in der die Menschen darum rangen, Natur und Wirklichkeit zu verstehen – um etwa die Perspektive richtig ins Bild zu bannen. Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer wollten die Welt verstehen – und schufen gleichzeitig großartige Kunst.

Die Welt erkennen, das will die Wissenschaft bis heute. Hier liegt ihr origineller Zugang, ihre ganz eigene Ästhetik. Die Wissenschaftskunst entsteht unabsichtlich und unbewusst. Sie ist nicht die Schöpfung eines Künstlers, sondern das Produkt einer Maschine. So wie „Cassinis“ Foto der verlassenen Erde. Oder wie das Röntgenbeugungsmuster der Erbsubstanz DNS, jene Aufnahme, die 1953 zur Entdeckung der Doppelhelix durch Francis Crick und James Watson führte. Apropos Erbsubstanz: Die ringförmige Darstellung kompletter Erbgutinformation, von Genomen, hat nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch künstlerischen Reiz, ein Mantra im Zeitalter der Bioinformatik.

Schönheit entsteht hier unabsichtlich, ist gewissermaßen ein Nebenprodukt. Und sie liegt mehr als bei einem traditionellen Kunstwerk im Auge – oder besser im Kopf des Betrachters. Um das Röntgenbeugungsmuster der DNS ästhetisch goutieren zu können, hilft es, die Methode zu verstehen und die Hintergrundgeschichte der Entdeckung zu kennen. Wissen ist nicht nur Macht, sondern verschafft auch Kunstgenuss.

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