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Schutz für die Schwachen. Nicht selten sind es nahe Angehörige oder Menschen aus dem Umfeld der Familie, die Kinder missbrauchen. Foto: Caro

© Caro / Kaiser

Wissen: Ein Ohr für die Opfer

„Opfer“, das ist heute unter männlichen Jugendlichen ein Schimpfwort. Wenn sich in einer Info-Veranstaltung des Berliner Vereins „Tauwetter“ ein erwachsener Mann vor einer Gruppe pubertierender Jungen als frühes Opfer sexueller Gewalt zu erkennen gibt, dann wird es allerdings mucksmäuschenstill.

„Opfer“, das ist heute unter männlichen Jugendlichen ein Schimpfwort. Wenn sich in einer Info-Veranstaltung des Berliner Vereins „Tauwetter“ ein erwachsener Mann vor einer Gruppe pubertierender Jungen als frühes Opfer sexueller Gewalt zu erkennen gibt, dann wird es allerdings mucksmäuschenstill. „Wir möchten mit diesen Aufklärungsveranstaltungen in Schulen nicht zuletzt herrschende Männerbilder hinterfragen“, sagt Thomas Schildmann. Die persönlich betroffenen und fachlich geschulten Mitarbeiter von „Tauwetter“ sprechen die Jungen bei solchen Gelegenheiten, für die sie gern auch ein „Indianerzelt“ nutzen, trotzdem lieber nicht als potenzielle Opfer an, sondern fragen: Was würdest du tun, wenn dein Freund belästigt wird? Wie könntest du ihm helfen? Sich in die Rolle des Beschützers zu versetzen, fällt den Heranwachsenden leichter.

Jungen, die in einer Institution von einem Erwachsenen missbraucht werden, sind oft bedürftiger als andere. „Sie suchen oft nach Anerkennung durch einen verständnisvollen Erwachsenen, weil sie mit Gleichaltrigen nicht gut reden können“, sagt Hans Willner, Kinder- und Jugendpsychiater am St-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof. „Die Täter testen genau aus, wem sie ein Angebot machen können“, berichtet auch Schildmann. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass kein Kind etwas dafür kann, wenn es einen derart zugänglichen Eindruck vermittelt. „Doch wir müssen solche Faktoren analysieren“, sagt Schildmann.

Bei einigen Kindern war schon der Weg ins Internat dornenreich. Vor körperlichen Misshandlungen, die als Strafen deklariert werden, dürfte sie dort eine Veränderung der gesellschaftlichen Ansichten zu Erziehungsmethoden inzwischen am wirkungsvollsten schützen.

„Das Autoritätsgefälle ist zurückgegangen, die Transparenz hat zugenommen“, urteilt Willner. Dass solche Veränderungen vor sexuellem Missbrauch schützen, ist aber nicht gesagt. Der Kinderpsychiater und Theologe meint zwar, die Lage an katholischen Schulen dürfte sich dadurch entschärft haben, dass dort mehr „weltliche“ Lehrer und Lehrerinnen arbeiten. Allerdings werde Missbrauch in verschiedenen Milieus unterschiedlich verpackt, gibt Schildmann zu bedenken. Die Diskussion über die Odenwaldschule habe gezeigt, dass auch die aufklärerisch verbrämte Variante schlimme Auswirkungen haben kann.

Darüber, wie die Täter ticken, wird landauf, landab ohnehin genug diskutiert. Auf der Seite der Opfer scheint auf den ersten Blick alles einfacher zu sein: Sie alle waren schließlich Kinder, als es geschah. Dass sie zu diesem Zeitpunkt noch ihr gesamtes Erwachsenenleben vor sich hatten, wäre dabei ein besonders triftiger Grund, sich über ihr Geschick Gedanken zu machen.

Die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (DGfPI), die auch beim Runden Tisch Kindesmissbrauch vertreten sein wird, zu dem Bundesfamilienministerin Kristina Köhler am 23. April nach Berlin eingeladen hat, betrachtet die bekannt gewordenen Fälle als eine Chance, dem Thema den Tabu-Charakter zu nehmen.

„Man kann gar nicht genug über die Vorfälle an den Schulen reden“, sagt auch der Kinderpsychiater Willner. Man müsse dabei aber den gesamten sozialen Nahbereich von Kindern berücksichtigen. Denn in der Mehrheit der Fälle werden Kinder durch Familienangehörige sexuell ausgebeutet, von Vätern, Stiefvätern, Stiefbrüdern. Von Menschen also, denen die Kinder vertrauen. Lehrer und Erzieher sind nicht nur potenzielle Täter, sondern Menschen, die helfen können, Kinder vor Missbrauch zu schützen. Doch das können sie nur leisten, wenn sie etwas vom Thema verstehen.

Die DGfPI fordert deshalb, Angehörige sozialer Berufe in der Ausbildung verpflichtend mit dem Thema sexuelle Gewalt zu konfrontieren. In Kindergärten und Schulen müsse es unbedingt sexualpädagogische Begleitung geben. Und dort müsse den Mädchen und Jungen auch beigebracht werden, wie man sich vor sexuellen Übergriffen schützen kann. „Kinder müssen rechtzeitig erkennen, was sich anbahnt, sie müssen mit Freunden darüber reden, sich als Gruppe solidarisieren“, beschreibt Schildmann die Stoßrichtung.

Auch wenn es geschehen ist, hilft das Gefühl, nicht allein dazustehen. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass das Sprechen leichter fällt, wenn andere ähnliche Erlebnisse hatten. Dass die Opfer nicht früher ausgepackt haben, haben die Täter wohl auch den Wunden zu verdanken, die sie ihnen schlugen. In den Auswertungen von „Tauwetter“ tauchen besonders häufig folgende Symptome auf: Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, Ängstlichkeit, Depressionen, Störungen des Selbstwertgefühls, Probleme, eigene und fremde Grenzen zu spüren und einzuhalten, Probleme mit Sucht und Drogen.

Alle diese Symptome zeigen sich auch bei jenen heute schon betagten Frauen, die als junge Mädchen am Ende des Zweiten Weltkriegs vergewaltigt wurden. „Auch nach 65 Jahren ist das Trauma in der Kindheit noch ein wesentlicher und belastender Bestandteil des Lebens der Patientinnen“, berichtet die Psychologin Maria Böttche vom Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin.

Das Kindheitstrauma äußere sich nicht nur in einer angstbesetzten Interaktion mit Männern, sondern auch in einer schwierigen Beziehung zu den eigenen Kindern. „Das jahrelange Schweigen über das Erlebte führte oftmals dazu, dass das Trauma nicht verarbeitet werden konnte und deshalb Symptome wie Schlafstörungen, Unruhe und Angst die Patientinnen seit Jahrzehnten begleiten.“

Der Frauen- und der Kinderschutzbewegung sei es zu verdanken, wenn die Aufmerksamkeit für derartige Kindheitstraumata drastisch gestiegen ist, sagt Günther Deegener, Psychologe und Autor mehrerer Bücher zum sexuellen Missbrauch an Kindern. „Anfang der 90er Jahre kam es aus Angst, Missbrauch zu übersehen, dann manchmal zu Überreaktionen: Man hat in unspezifische Symptome zu viel hineininterpretiert und entsprechend überreagiert.“ Diese Tendenz, von Kritikern als „Missbrauch mit dem Missbrauch“ charakterisiert, gebe es allerdings inzwischen nicht mehr, sagt Deegener.

Verlässliche Zahlen fehlen, doch in Befragungen geben zehn bis 15 Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer an, sie hätten es im Alter unter 16 mindestens einmal erlebt, dass ein wesentlich älterer Mensch irgendeine Form des sexuellen Körperkontakts von ihnen erzwungen habe. „Ob das heute seltener passiert, ist die Frage“, sagt Schildmann. „Klar ist jedoch, dass es heute früher möglich ist, darüber zu reden.“

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