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© Thilo Rückeis

Einschulung: Spielen und lernen

In Großbritannien ist eine Debatte über das Einschulungsalter entbrannt: Wann ist ein Kind schulreif?

Der erste Schultag ist ein moderner Initiationsritus. Er fällt nicht etwa ganz profan auf einen Werktag, sondern wird auf einen Samstag gelegt, damit Großeltern, Onkel und Tanten anreisen können. Mit einer prall gefüllten Schultüte, schicken neuen Klamotten und unzähligen Fotos beginnt die Schullaufbahn.

Doch wann sollte sie beginnen? Darüber wird in Großbritannien derzeit wieder heftig diskutiert, seit Mitte Oktober der Schlussbericht des „Cambridge Primary Review“ publiziert wurde, ein Bildungsbericht für die britische Grundschule. Mehr als 4000 Quellen wurden hier ausgewertet, um die Qualität der Arbeit an Englands Grundschulen zu bewerten. Zwischen Oktober 2007 und Februar 2009 sind nach und nach schon 31 Interim-Reports zu Themen wie Lernen, Rolle der Eltern, Tests, Lehrpläne und Organisation von Schulen erschienen. Auch der 608 Seiten dicke Abschlussbericht, der jetzt unter dem Titel „Children, their World, their Education“ (Kinder, ihre Welt, ihre Erziehung) vorliegt, hat einen umfassenden Anspruch und endet in 75 Empfehlungen. Einer der zahlreichen Schwerpunkte – allerdings einer, der die Gemüter besonders bewegt – ist die Frage, wann die Kinder eingeschult werden sollten.

„Dass England entgegen der internationalen Erkenntnisse und Praktiken auf dem frühestmöglichen Beginn der formalen Beschulung besteht, ist erzieherisch kontraproduktiv“, heißt es im Resümee der Pädagogen von der Universität Cambridge um Robin Alexander. Die Experten empfehlen stattdessen, sich an den Konzepten anderer Länder zu orientieren, aus den bisherigen zwei Eingangsklassen eine zu machen und die Vorschulerziehung bis zum Alter von sechs Jahren auszudehnen.

Das ist das Alter, in dem sich auch die Mehrheit der anderen europäischen Erstklässler befindet (siehe Info-Kasten). „Doch in Wellen wird immer wieder darüber diskutiert, welches Einschulungsalter denn nun das richtige sei“, sagt Jörg Ramseger, Leiter der Arbeitsstelle Bildungsforschung Primarstufe der Freien Universität. Derzeit kocht die Diskussion in Polen hoch, wo die Erstklässler zwei Jahre älter sind als in England. In der Bevölkerung gibt es heftigen Widerstand gegen den Plan, die Einschulung um ein Jahr vorzuziehen.

Die Untersuchung von zwei Darmstädter Wirtschaftswissenschaftlern scheint den Kritikern recht zu geben. Patrick Puhani und Andrea Weber schauten sich das Abschneiden hessischer Schüler bei der Leseuntersuchung Iglu und die Übertrittsquoten aufs Gymnasium an und stellten fest, dass Kinder, die aufgrund ihres spät im Schuljahr liegenden Geburtstags erst mit fast sieben in die Schule gekommen waren, bei beidem besser abschnitten.

Hierzulande zeigte sich die Angst vor der „Verfrühung“ jahrelang in der wachsenden Zahl vom Schulbesuch zurückgestellter Sechsjähriger. Mit ihrer „Empfehlung zum Schulanfang und zur Optimierung der Arbeit zum Schulbeginn“ hat die Kultusministerkonferenz 1997 darauf reagiert. Die Länder setzten sie inzwischen teilweise mit der Einführung der flexiblen Eingangsphase um, die in Berlin schon ab fünfeinhalb beginnt und in ein bis drei Jahren durchlaufen werden kann.

Ramseger hält den Streit um das perfekte Alter der ABC-Schützen für müßig. „Es gibt kein wissenschaftlich begründbares ideales Einschulungsalter.“ Körperliche Schulreife-Kriterien wie das Wackeln der Milchzähne oder die im „Philippi-Ohrläppchen-Test“ gemessene Fähigkeit des Kindes, mit der rechten Hand das linke Ohrläppchen zu erreichen, wenn es seinen Arm über den Kopf legt, sind zwar anschaulich, helfen aber nur wenig weiter.

Unbewiesene Annahmen wie die des Anthroposophen Rudolf Steiner, die menschliche Entwicklung vollziehe sich allgemein in Sieben-Jahres-Schritten, sind ohnehin obsolet. Meinte man lange Zeit, das reife Kind falle ebenso leicht in den Korb der Schule wie der Apfel vom Baum, sagt Ramseger heute: „Es kommt auf die Umstände an – und zwar weniger auf die des Kindes als auf die der Bildungsinstitution.“ Er verweist auf die Niederlande. Dort gehen alle Kinder mit fünf in die Schule, und zwar genau mit fünf: Die präzise Stichtagsregelung sieht vor, dass sie am ersten Tag des Monats beginnen, der auf ihren Geburtstag folgt. Jeden Monat werden also neue Kinder eingeschult, jeden Monat gibt es eine kleine Einschulungsfeier.

„Das niederländische Modell funktioniert nur, weil die Basisschule dort so kindgerecht gestaltet ist und weil dort eine Mischform zwischen Kindergarten- und Grundschulpädagogik praktiziert wird“, sagt Ramseger. In England dagegen ist die Grundschule von Beginn an ausgesprochen leistungsorientiert. In ihrem Bericht kritisieren die Oxforder Wissenschaftler denn auch den frühen Einsatz standardisierter Tests, der die Grundschullehrer zu straffem Tempo und enger Lehrplanorientierung, die Kinder aber zu langem Stillsitzen zwinge.

„Lösen kann man das Problem nur dadurch, dass man Kindergarten und Grundschule aneinander heranführt", sagt Ramseger. Spätestens die Bildungsprogramme, die alle Bundesländer seit 2004 für Kindertagesstätten vorsehen, haben deutlich gemacht, dass auch dort schon gelernt wird. Im letzten – in Berlin kostenfreien – Kitajahr sollen die Kinder sogar spielerisch an die Schriftsprache und die Mathematik herangeführt werden. Wenn es um den Entwicklungsstand der Kinder geht, ist folglich das Urteil der Erzieherinnen von Gewicht.

Wer Vorschulkinder bei der konzentrierten Arbeit sieht, wird im Einzelfall schwer entscheiden können, zu welcher Institution der Raum gehört, in dem sie gerade sitzen. Trotzdem ist der Übergang von der einen zur anderen für viele Kinder dieses Alters schwierig. Im Projekt Ponte, einem Gemeinschaftsprogramm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Internationalen Akademie für Innovative Pädagogik und Ökonomie an der Freien Universität, wurden versuchsweise Brücken zwischen Kindergarten und Schule geschlagen. So bildeten an verschiedenen Orten in vier Bundesländern Erzieher und Grundschullehrer „Lerntandems“. Externe Moderatoren halfen ihnen dabei, Vorurteile, Kommunikationshürden und gedachte Hierarchien zwischen den Berufsständen zu überwinden.

Wenn es in der Grundschule ein bisschen anders zugeht als in der Kita, ist das aus der Sicht von Entwicklungs- und Lernpsychologen als Lernanreiz durchaus erwünscht. Doch offensichtlich ist es für alle Beteiligten nützlich, sich auf die Veränderungen einzustellen. Die Grundschule im brandenburgischen Beeskow, die an Ponte teilnahm, konnte sich jedenfalls vor Anmeldungen nicht retten.

Adelheid Müller-Lissner

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