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Schatzkammer. Aus den Fragmenten setzte das Team um Juan Luis Arsuaga 17 Schädel zusammen.

© Javier Trueba / Madrid Scientific Films

Entwicklung des Neandertalers: Zuerst kam das Gesicht

17 Schädel haben Forscher aus der „Knochengrube“ in Nordspanien geborgen. Die Funde helfen, die Evolution der Frühmenschen zu entwirren.

„Wenn uns ein Neandertaler begegnen würde, würden wir sein Gesicht als fremd erkennen“, sagt Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig. Die große Nase zum Beispiel würde jedem auffallen, ebenso die Wülste über den Augen und der kräftige Kiefer. Diese charakteristischen Gesichtszüge entwickelten die Neandertaler jedoch nicht plötzlich. Vielmehr sind einige davon bereits bei den Frühmenschen vor 430 000 Jahren erkennbar, deren Schädel Juan-Luis Arsuaga von der Complutense-Universität in Madrid und seine Kollegen jetzt in der Fachzeitschrift „Science“ beschreiben. Die Überreste stammen aus der Höhle Sima de los Huesos („Knochengrube“) in der Sierra de Atapuerca im Norden Spaniens. Die Wurzeln der Neandertaler sind also viel älter als bisher angenommen: „Im Studium haben wir noch gelernt, dass diese Menschenlinie nur hunderttausend Jahre alt ist“, erinnert sich der 60-jährige Hublin.

Die Höhle ist eine wahre Schatzkammer

Neu entdeckte Fossilien und Erbgutanalysen von Frühmenschen haben diese Schätzung inzwischen korrigiert. Hublin ordnet die Ergebnisse seiner Kollegen in einem Kommentar ein: Irgendwo im Westen der riesigen Landmasse Eurasiens spaltete sich vor 400 000 bis 500 000 Jahren eine Gruppe Hominiden von anderen Linien im Osten Asiens und in Afrika ab. Und genau in dieser Schlüsselzeit vor etwa 430 000 Jahren lebten die Frühmenschen in der nordspanischen Sierra de Atapuerca.

Diese Knochengrube ist eine wahre Schatzkammer. Während in anderen Gegenden nur kleine Einzelteile uralter Skelette aus dem Pleistozän gefunden werden, haben die Anthropologen dort rund 7000 Überreste von mindestens 28 Menschen ausgegraben – das sind mehr Fossilien als irgendwo sonst. 17 Schädel haben die Forscher zusammengesetzt und erstmals beschrieben, viele sind fast vollständig erhalten.

Erst das Gesicht, später das Gehirn

Vor 430 000 Jahren hatten demnach das Gesicht und vor allem der Kauapparat bereits deutliche Neandertaler-Merkmale, schreiben Arsuaga und seine Kollegen. Die Schädelhöhle mit dem Gehirn ähnelt dagegen primitiveren Funden aus früheren Epochen. Das Mosaikmuster spricht für eine allmähliche Ausbildung dieser Eigenschaften.

Mosaik. Der 430 000 Jahre alte Schädel ähnelt bereits etwas dem der Neandertaler.
Mosaik. Der 430 000 Jahre alte Schädel ähnelt bereits etwas dem der Neandertaler.

© Javier Trueba / Madrid Scientific Films

Die Entwicklung bis dahin schildert Hublin: Menschen lebten bereits vor 850 000 Jahren an den Rändern der Wälder, die damals zum Beispiel im heutigen England wuchsen. 200 000 Jahre später stießen die Gletscher aus dem Norden weit bis nach Mitteleuropa vor und vernichteten damit einen großen Teil des Lebensraums der Frühmenschen. Das Eis kam etwa aller hunderttausend Jahre wieder und drängte die Menschen im Westen Eurasiens in eine Sackgasse. Oft überlebten nur kleine Gruppen. Dass sie untereinander kaum Kontakt hatten, verraten heute Erbgutanalysen.

Katastrophale Ereignisse dezimierten die frühen Menschen

„Das sind optimale Voraussetzungen für einen Gendrift. Dabei bleiben bestimmte Eigenschaften zufällig erhalten und andere verschwinden“, sagt Hublin. Das Eis tötete wohl immer wieder isoliert lebende Menschengruppen. Mit ihnen starben alle Erbeigenschaften aus, die es nur dort gab. Im Laufe der Zeit blieben zufällig einige Eigenschaften übrig, die zum Beispiel die auffälligen Gesichtszüge der Neandertaler formten. Solche „genetischen Flaschenhälse“ – katastrophale Ereignisse, die nur ganz wenige Menschen überlebten – erklären wahrscheinlich auch eine Erbgutanalyse, mit der EVA-Forscher Matthias Meyer bereits im Dezember 2013 die Knochengrube in die Schlagzeilen brachte.

Der Leipziger Forscher hatte Knochen von der gleichen Menschengruppe untersucht, deren Neandertaler-Gesichter Juan-Luis Arsuaga jetzt beschreibt. Allerdings zeigte das Erbgut der Mitochondrien, also der Minikraftwerke in den Zellen, dass diese Hominiden nicht etwa mit den Neandertalern, sondern mit den Denisova-Menschen eng verwandt waren. Das ist eine weitere Menschenlinie, deren allenfalls 100 000, vielleicht auch nur 40 000 Jahre alten Überreste bisher nur in einer Höhle im Altai-Gebirge Sibiriens ausgegraben wurden – weit entfernt von Nordspanien.

Gemeinsamer Vorfahr mit den Denisovanern

Ein gemeinsamer Vorfahr von Denisovanern und Neandertalern lebte wahrscheinlich noch vor 600 000 Jahren irgendwo in Eurasien. Das Mitochondrien-Erbgut dieses Vorfahren könnte der DNS der Denisovaner und der Menschen mit den Neandertaler-Gesichtern in der spanischen Knochengrube geähnelt haben. Während die Erbeigenschaften in den Denisovanern überlebten, könnten sie bei den Neandertalern in einem der genetischen Flaschenhälse verloren gegangen sein, vermutet Hublin. Vor 50 000 Jahren jedenfalls war es bei den Neandertalern längst verschwunden.

Fundorte von Frühmenschen.
Fundorte von Frühmenschen.

© Nature/TSP/Klöpfel

Genau in dieser Zeit besiedelten moderne Menschen, die sich in Afrika entwickelt hatten, Eurasien und trafen dort auf die Neandertaler. Die Alteingesessenen waren zwar gut an die harschen Bedingungen der Eiszeiten angepasst. Trotzdem kamen die Neuankömmlinge besser zurecht. Die Neandertaler starben aus.

„Was die modernen Menschen besser konnten, kann man nicht unbedingt in den Fossilien oder in den archäologischen Funden sehen“, meint Hublin. Möglicherweise hat sich einfach ihr Verhalten unterschieden. Vielleicht war eine der Gruppen aggressiver? Oder sie arbeitete in größeren Teams und vielleicht auch effektiver zusammen? Die Analyse des uralten Erbgutes liefert dafür einzelne Hinweise: Moderne Menschen und Neandertaler unterscheiden sich in gerade 87 Eiweißen voneinander. Die meisten davon sind für die Funktion und die Entwicklung des Gehirns wichtig.

Auf die Frage, was Jean-Jacques Hublin gern von den Neandertalern wissen würde, gibt er daher eine verblüffende Antwort: „Wie sie sich ihren Schwägern gegenüber verhalten haben!“ Das liegt nahe: Schließlich haben schon Bauern und später die Adelshäuser der modernen Menschen gern über Hochzeiten Allianzen mit ihren Nachbarn geschlossen und so ihre eigene Position gestärkt. Sollten den Neandertalern ein solches Verhalten fremd gewesen sein, könnte das ein Grund für die Überlegenheit der Neuankömmlinge aus Afrika gewesen sein.

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