zum Hauptinhalt

Nachruf: Er öffnete den Koran für die Moderne

Zeitlebens warb Nasr Hamid Abu Zaid dafür den Koran in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu interpretieren. Zum Tod des Reformers Nasr Hamid Abu Zaid.

Die große deutsche Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel nannte ihn einmal einen „der herausragenden Köpfe der islamischen Welt, der den gefährlichen Versuch unternahm, den Koran für die Moderne zu öffnen“. Zeitlebens warb Nasr Hamid Abu Zaid dafür, auch die heilige Schrift der Muslime – wie die Bibel der Juden und der Christen – in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu interpretieren und nicht als einen wortwörtlich vom Himmel gefallenen sakrosankten Text anzusehen.

„Wir müssen mit dieser Tradition aktiv umgehen“, argumentierte er. „Wir leben in modernen Zeiten und sehen uns mit Fragen konfrontiert, die bei unseren Vorgängern nie aufgetaucht sind – Gleichheit, Menschenrechte, Gleichstellung von Mann und Frau, das harmonische Zusammenleben mit anderen Kulturen, das sind die Fragen unserer Zeit.“

Seine Ansichten hat der Literaturwissenschaftler mit einer biografischen Odyssee bezahlt, die ihn über die arabische Welt hinaus auch in Europa und den Vereinigten Staaten bekannt gemacht hat. Islamische Eiferer in Ägypten stempelten ihn zu einem Abtrünnigen des Islam, setzten vor einem Scharia-Gericht die Zwangsscheidung von seiner Frau Ibtihal Yunes durch und zwangen den Gelehrten 1995 schließlich ins niederländische Exil.

In den letzten Jahren war der Verfemte wieder häufiger zu Besuch am Nil. Am Montag früh ist er im Scheich-Zayed-Hospital in Kairo gestorben. Vor zwei Wochen war der 66-jährige, der seinen Hauptwohnsitz in Utrecht hatte, auf einer Reise an Hirnhautentzündung erkrankt. Nach Angaben seiner Familie wurde er noch am Abend seines Todestages in seinem Heimatdorf Kahafa im Nil-Delta begraben. In diesem kleinen Flecken nahe der Großstadt Tanta kam er am 10. Juli 1943 zur Welt. Nach einer technischen Ausbildung holte er das Abitur nach und studierte an der Universität Kairo Arabistik. 1981 promovierte er mit einer Arbeit über die Interpretation des Korans. Studienaufenthalte in Amerika und Japan machten ihn mit der Welt bekannt. Zuhause erregte vor allem sein 1992 erschienenes Buch „Kritik des religiösen Diskurses“ den Unmut des religiösen Establishments. Abu Zaid kritisierte nicht nur den Missbrauch der Religion durch die Fundamentalisten, sondern auch die selbstverständliche „Indienstnahme“ des Islam durch die Alltagspolitik. Im holländischen Exil lehrte der geächtete Reformdenker zunächst an der Universität Leiden. 2004 wechselte er auf den Lehrstuhl für Humanismus und Islam an die Universität Utrecht. Ein Jahr später erhielt er in Berlin den Ibn-Ruschd-Preis für Freies Denken.

„Die meisten Muslime schauen in die Vergangenheit zurück. Ihre Ausbildung bietet ihnen keine Anleitung zum kritischen Bewusstsein“, kritisierte er damals in einem Interview. Stattdessen werde die Vergangenheit als goldenes Zeitalter idealisiert, das in Wirklichkeit nie existiert habe. Bis zu seinem Lebensende war Abu Zaid ein gefragter Vertreter des Reformislam. Was ist das Wort Gottes? – diese Frage hat ihn zeitlebens umgetrieben. Der Koran sei eine religiöse Erzählung, schrieb er in seinem kürzlich erschienenen Buch „Muhammed und die Zeichen Gottes“. Das heiße nicht, das Erzählte sei erfunden. Umgekehrt sei der Text auch keine authentische Dokumentation. Eine Erzählung gebe vielmehr „das Geschehene auf die Weise wieder, wie es der Erzähler wahrgenommen hat“. Martin Gehlen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false