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Intersexuelle: Leben zwischen den Geschlechtern

Intersexuelle passen nicht in das binäre Schema von Mann und Frau. Zwangsoperationen lehnen viele dennoch ab.

Elf Jahre lebte sie als Frau, rasierte sich täglich, schluckte Hormone und schmierte sich Lippenstift ins Gesicht. Eines Tages brachte die hingeworfene Frage einiger Dorfjugendlicher das ganze Kartenhaus zum Einsturz: „Ist das ’n Typ oder ’ne Frau? ... Nee, kein Mann, ES trägt Lippenstift.“ Und die sich bislang als Frau verstehende Künstlerin Ins A Kromminga musste sich eingestehen, dass sie recht haben und „sie“ ein „Es“ ist, ein Anderes, und die Fragen, die mit der Kastration ihrer Hoden zu Grabe getragen schienen, wieder an die Oberfläche drängten.

Für intersexuelle Menschen wie Kromminga wird das selbstverständlichste Ordnungsmuster, das die Gesellschaft strukturiert, zum Problem. Dass Männer Männer und Frauen Frauen lieben können, wird mittlerweile von vielen akzeptiert, und vor 30 Jahren hat der Gesetzgeber mit dem Transsexuellengesetz auch die Möglichkeit eröffnet, dass Menschen, die sich im „falschen“ Körper fühlen, ihr Geschlecht wechseln können. Doch was ist mit denen, die nicht unzweifelhaft dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, die „dazwischen“ liegen? Solange das „Hebammengeschlecht“ noch den einzigen Anhaltspunkt lieferte, fielen zunächst nur ambivalente Genitalien auf: Neugeborene mit einem kaum ausgebildeten Penis oder nur rudimentär entwickelten Hoden etwa, und Säuglinge, deren Klitoris länger als üblich ausfällt.

Es gibt aber auch Fälle, in denen die äußeren Geschlechtsmerkmale zunächst ganz unauffällig sind, das „Mädchen“ aber einen männlichen XY-Chromosomensatz trägt, oder ein „Junge“ „ganz normal“ aufwächst, bis ihm in der Pubertät statt Barthaare plötzlich Brüste wachsen. „Was ist nur mit mir los? Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!“, entlädt sich der Schock dann in den einschlägigen Internet-Foren.

Je nach Ausprägung und Zuordnung kommt auf 3000 bis 5000 Geburten ein Kind mit einem uneindeutigen Geschlecht, schätzen Experten. Das ist viel, gemessen an der Einsamkeit, die zunächst die Eltern und später die Betroffenen befällt. Intersexualität ist völlig natürlich. Gesellschaften, die die Geschlechter dennoch streng binär normieren, kommen mit fließenden Übergängen jedoch nicht zurecht. So werden Intersexuelle zu Freaks erklärt. Dass hinter jedem Einzelfall ein oft von Irrationalität und Leiden begleitetes Schicksal steht, erlebten vergangene Woche auch die deutschen Ethikräte, deren ansonsten akademisch dahin plätscherndes „Forum Bioethik“ beim Thema „Intersexualität – Leben zwischen den Geschlechtern“ plötzlich zu einer Konfrontationsarena zwischen dem Expertensystem und selbstbewussten Anwälten in eigener Sache wurde.

Was eigentlich ist ein Mann oder eine Frau?, provozierte die Hamburger Sexualforscherin Hertha Richter-Appelt zum Auftakt das Auditorium in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Weist sich ein Mann durch ein Y-Chromosom aus? Und darf sich eine „weiblich“ aussehende Frau mit einem solchen noch so nennen? Sind Vagina und Klitoris tatsächlich der Beweis, dass wir es mit einer Frau zu tun haben?, fragte die stellvertretende Direktorin des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Und wie groß muss ein Penis sein, damit er einen Menschen zum Mann macht?

Frühere Gesellschaften kannten noch ein Zwischengeschlecht, der blumigere Begriff „Hermaphroditen“ stammt aus der Antike. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 stellte klar, dass „Zwitter“ an ihrem 18. Geburtstag erklären sollten, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlten. Noch der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld hatte für ein „drittes Geschlecht“ votiert. Doch Hormonforschung und Chirurgie mit ihren zunehmenden Möglichkeiten der anatomischen Geschlechtskorrektur ließen diese eher „kulturell“ inspirierten Vorstellungen hinter sich, zugunsten der „Herrichtung“ der Genitalien. John Money am Johns Hopkins Hospital in Baltimore galt in den fünfziger Jahren als Pionier auf dem Gebiet der „disorders of sex development“ (DSD), wie der englische Fachbegriff lautet. Er drang auf eine möglichst frühe operative Geschlechtsangleichung, um den Eltern zu ermöglichen, ihr Kind „eindeutig“ zu erziehen. Damit wollte Money auch beweisen, dass das Geschlecht eines Menschen nicht biologisch festgelegt ist, sondern durch Erziehung zugewiesen wird. Seine brutalen und entwürdigenden Experimente an Kindern konnten Moneys These weder widerlegen noch beweisen. In der modernen Geschlechterforschung, wie sie etwa die Philosophin Judith Butler vertritt, als auch bei den Intersexuellen steht Money mit seinen Menschenversuchen in Misskredit.

Was sie bei diesen Operationen unter Umständen aushalten mussten und müssen und mit welchen Folgen, beschrieb Claudia Kreutzer vom „Verein intersexueller Menschen“ sehr drastisch: Erst würden sie „kastriert“, häufig nachoperiert und mit den gleichen Hormonen behandelt „wie Triebtäter“. Kinder müssten das schmerzhafte Weiten der künstlichen Vagina über sich ergehen lassen und die durch Operationen hervorgerufenen Empfindungseinschränkungen hinnehmen. Um die zweigeschlechtliche Norm aufrecht zu erhalten, würden sogar pränatale Eingriffe bei Feten erprobt. Lucie Veith, die sich selbst als „Überlebende eines unfreiwilligen Menschenversuchs“ sieht, bezeichnete das, was Intersexuellen angetan werde, schlicht als „Folter“.

Dass sich in den Selbsthilfegruppen vor allem die Geschädigten und Traumatisierten zusammenfinden, räumte Kreutzer ein. Andere Betroffene, gab Richter-Appelt zu bedenken, leben nach einer operativen oder hormonellen Behandlung in ihrem vereindeutigten Geschlecht durchaus glücklich.

Die internationalen Studien, die der Kieler Sexualwissenschaftler Hartmut Bosinski vor einigen Jahren zusammengetragen hat, sind widersprüchlich. Der Leiter der Sektion für Sexualmedizin im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein hält es jedoch für wirklichkeitsfremd, die Kinder solange im „Zwischenraum der Geschlechter aufwachsen zu lassen“, bis sie selbst über entsprechende Maßnahmen entscheiden können.

Zu einem pauschalen OP-Verbot, das Kreutzer und Veith unter Beifall der zahlreich Angereisten aus der Selbsthilfebewegung forderten, konnten sich die Fachvertreterinnen auf dem Ethikrat-Podium ebenfalls nicht durchringen. Die Bioethikerin Claudia Wiesemann von der im Netzwerk DSD/Intersexualität zusammengeschlossenen Forschungsgruppe plädierte für „angemessene Interventionen“, die das Kind und dessen körperliche Integrität im Auge haben. Dass sie eingangs im Hinblick auf sexuelle Variationen auch von „Krankheit“ sprach, war für die aufgebrachten Diskutantinnen allerdings nicht mehr gut zu machen, obwohl Michael Wunder, Psychologe und Leiter des Beratungszentrums der Stiftung Alsterdorf in Hamburg, geduldig versuchte, goldene Brücken zu bauen. So war lediglich Einigkeit darüber zu erzielen, dass Eltern und Betroffenen kompetente Beratung in spezialisierten Zentren ermöglicht werden sollte.

Ob intersexuelle Menschen von der geplanten Grundgesetzänderung, die das Diskriminierungsverbot auch auf die sexuelle Identität ausweitet, profitieren werden, beurteilte die Bremer Juristin Konstanze Plett eher skeptisch. Die erzwungene Geschlechtszuweisung, so ihre juristische Minderheitsposition, sei aber ein Verstoß gegen die Menschenrechte und verletze das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Menschen. Die westliche Welt lamentiere über Genitalbeschneidung, und der Bundestag diskutiere ein Verbot, ohne wahrzunehmen, dass derlei tagtäglich auch hierzulande passiere.

Intersexuelle Menschen sind eine Herausforderung für die auf ein binäres Schema fixierte Gesellschaft, und ihr aktivster Teil verbindet damit einen politischen Auftrag, den aufs Podium zu heben sich der Ethikrat in diesem Fall nicht scheute. Auch wenn sich der Streit um Behandlungspraktiken drehte, schien doch durch, dass die Betroffenen der Normalgesellschaft etwas voraus haben, was sie vielleicht mit Flüchtlingen und anderen „displaced“ und „disorderd“ Menschen teilen: dass man auch „dazwischen“ leben kann.

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