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Effektiv. Polikliniken boten eine gute Infrastruktur für Arzneimittelprüfungen.

© picture alliance / ZB

Umstrittene Medikamententests an DDR-Patienten: „Es ist ein riesiges Puzzle“

Hauptsache Devisen. Mehr zählte nicht für die DDR-Führung. So verdiente der Staat auch an klinischen Studien mit Patienten. Ob sie einwilligten, ist umstritten - und nun ein Fall für Historiker. Projektleiter Volker Hess zieht Zwischenbilanz.

Herr Hess, die Pharmafirma Roche betont, die DDR sei für sie ein Land wie jedes andere gewesen. Stimmen Sie zu?

Es gab einen Bundeskanzler, der Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnet hat. Mich wundert das, mit Verlaub. Jeder wusste, dass die DDR nicht den Spielregeln demokratischer Transparenz folgte. Ob man das in Kauf nimmt, ist eine Frage der Geschäftspolitik. Ich halte die DDR nicht für ein Land wie jedes andere. Und die Schweizer wären nicht begeistert, wenn man ihr Land mit der DDR gleichsetzen würde.

In Ihrem Zwischenbericht ist von etwa 300 Studien internationaler Firmen die Rede. 70 konnten Sie nicht zuordnen. Was macht die Quellenlage so kompliziert?

Bisher haben wir nur die Unterlagen aus dem Ministerium für Gesundheitswesen und den nachgeordneten Behörden ausgewertet, für den Zeitraum von 1980 bis 1989/90. Der Zentrale Gutachterausschuss beim Ministerium hat alle geplanten Studien bewertet. Aber in den Behörden wurden die Akten unter verschiedenen Stichworten abgelegt. Mal wird der Wirkstoff genannt, mal die Prüfnummer. Das ergibt ein riesiges Puzzle und wir haben nicht alle Teile. Für 303 vom Westen bezahlte Studien können wir nachvollziehen, wer sie beantragt hat, was der Ausschuss dazu gesagt hat und wo sie durchgeführt wurden. Wir haben jedoch nicht für jede Sitzung ein Protokoll, deshalb können wir etwa 70 Studien nicht zuordnen. Wir wissen auch noch nicht, wie viele Studien an den Behörden vorbei organisiert wurden.

Wie wahrscheinlich ist das?

Lassen Sie uns die Stasi-Akten durchgehen! Vermutlich ist es die absolute Ausnahme. Die Stasi sollte verhindern, dass einzelne Chefärzte oder Kliniken aus dem zentralisierten Verfahren ausscheren und ein bilaterales Vertragsverhältnis mit einer westlichen Firma aufbauen.

Bestand diese Gefahr?

Neue Arzneimittel werden seit den 1930er Jahren klinisch erprobt. Nach dem Krieg – insbesondere nach dem Contergan-Skandal – wurden die freiwilligen Tests zunehmend durch standardisierte Zulassungsverfahren ersetzt. Die DDR zählt zu den Vorreitern, es gab dort wesentlich früher schärfere Gesetze als in der Bundesrepublik, zumindest auf dem Papier. Kontakte bestanden vor und nach dem Mauerbau, zum Teil als gewachsene Netzwerke. Die nach dem Mauerbau betriebene „Störfreimachung“ hat nie 100-prozentig gegriffen. Man traf sich auf der Leipziger Messe und auf medizinischen Kongressen. In den 1980er Jahren haben einige Firmen mit dem Ministerium auch Rahmenverträge zu den Versuchen abgeschlossen.

Die Überwachung der Kontakte durch die Stasi ist also nicht überraschend.

Nein, überhaupt nicht. Das sind sensible Bereiche, es geht um Geld, Westkontakte und die politische Linie. Natürlich war dann die Stasi dabei. In der stupiden Eintönigkeit der IM-Berichte, Observationen und Gesprächsprotokolle sind aber kleine Details verborgen, die man sonst nie ermitteln könnte. Welche Motive gaben die Firmen an? Welche Widersprüche gab es innerhalb des Systems? Auch innerhalb der Medizinalverwaltung waren einzelne Vertreter nicht einverstanden mit diesem System des „Immateriellen Arzneimittelexports“. Auf der einen Seite ein sozialistisches Gesundheitssystem aufbauen, auf der anderen Seite (West)geld mit Schutzbefohlenen machen, der Widerspruch ist schwer zu vermitteln. Dass solche Berichte tendenziös und hoch problematisch sind, ist offensichtlich. Aber sie runden das Bild ab.

Im Zwischenbericht heißt es, dass sogar Polikliniken Prüfzentren waren. Warum?

Die zentralisierte ambulante Versorgung in der DDR war für westliche Firmen attraktiv. Schließlich wird nicht jede Erkrankung im Krankenhaus behandelt. In der Bundesrepublik war es sehr schwer, bis zu 100 Arztpraxen zu einer Studie zusammenzuschließen. Die großen Polikliniken in der DDR boten hingegen standardisierte Bedingungen, waren teilweise sogar auf bestimmte Erkrankungen spezialisiert, also eine optimale Infrastruktur für ambulante Arzneimittelstudien.

Die DDR war keine billige Teststrecke?

Über die Kosten können wir noch nichts sagen. Geld war sicherlich nicht das einzige Motiv: Man sprach deutsch, man protokollierte mit deutscher Gründlichkeit, und der wissenschaftliche Standard war hoch. Das ist für Studien zentral. Dass die Pharma-Karawane sich heute immer neue Länder erschließt, hängt auch mit unseren Anforderungen an sichere Arzneimittel zusammen. Wer Wirkungen und Nebenwirkungen zulassungsgerecht dokumentieren will, ist auch auf Probanden angewiesen, die weder andere Erkrankungen haben noch weitere Medikamente einnehmen. Diese Kriterien sind in einer überalterten Gesellschaft wie der unseren schwer zu erfüllen.

Volker Hess
Medizinhistoriker. Volker Hess leitet das Projekt "Klinische Arzneimittelforschung in der DDR, 1961-1989"

© Charité

Ein Kritikpunkt ist, dass die Patienten möglicherweise nicht ahnten, dass sie Probanden in einer Studie waren. Ist die Einwilligung überhaupt nachvollziehbar?

Ganz ehrlich? Wahrscheinlich werden wir das nie genau wissen. Zu dieser Zeit bestand weder im Westen noch im Osten eine so ausführliche Dokumentationspflicht wie heute. In den Unterlagen wurde angekreuzt: „Der Patient wurde aufgeklärt“. Der Arzt unterschrieb das.

Was er gesagt hat, bleibt sein Geheimnis.

Wir sollten davon ausgehen, dass die DDR-Ärzte ordentlich gearbeitet haben. Wir müssen das an den damals üblichen Standards messen – und die wurden, so weit wir sehen, eingehalten. Spannender ist die Frage nach dem Umgang mit verletzlichen Gruppen wie Kindern oder psychiatrischen Patienten. Das sind die Testfälle, ob alles mit rechten Dingen zuging. Das werden wir in Fallstudien klären.

Sie suchen noch Zeitzeugen, die selbst Probanden waren.

Bisher haben wir 20 Fragebögen zurückbekommen. Manche beklagen sich, dass sie mit „Westmedikamenten“ falsch behandelt wurden. Ein paar waren tatsächlich Probanden. Das ist alles lange her und die Erinnerungen sind nicht präzise. Mit der systematischen Übersicht, die jetzt vorliegt, wissen wir nicht nur, welche Wirkstoffe wann und wo eingesetzt wurden. Wir können damit leichter klären, ob die jeweilige Person möglicherweise an einer Studie teilgenommen hat.

Wen befragen Sie außerdem?

Experten aus West und Ost. Klinikärzte, Mitarbeiter aus den beteiligten Ministerien, aber auch der Pharmaunternehmen. So wollen wir die Ebene jenseits des Papiers erforschen. In einem der nächsten Gruppeninterviews wird es um Arzneimitteltests bei Medizinstudierenden gehen – da sind die Ärzte dabei, die die Tests durchgeführt haben und die heutigen Ärzte.

Das Spektrum der getesteten Medikamente war sehr vielfältig, mit einem Schwerpunkt bei Herz-Kreislauf.

Forschung verläuft in Wellen. In den 1980er Jahren waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein großes Thema. Die Hochphase der Psychopharmaka war in den 1970ern. Das Spektrum der getesteten Wirkstoffe ist zeittypisch und sehr breit – bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln.

Können Sie schon sagen, wie viele Patienten in die Studien eingeschlossen waren?

Nein. Dazu müssen wir die Studienprotokolle auswerten. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir höchstens Durchschnittswerte nehmen, den Finger in den Wind halten und hochrechnen. Aber das ist nicht seriös.

Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit mit den Pharmafirmen?

Unterschiedlich. Koordiniert werden die Anfragen vom Verband forschender Arzneimittelhersteller. Wir haben zunächst stichprobenartig Wirkstoffe ausgesucht und einige Firmen um eine Recherche gebeten, um zu sehen, welches Archivmaterial überliefert wurde. Dabei zeigte sich, dass die Dokumentationspraxis von Firma zu Firma sehr unterschiedlich ist. Schering beispielsweise hat ein ausgezeichnetes Archiv. Andere entsorgen ihre Materialien schneller. Auswerten werden wir die Akten aber selbst. Die einzige Firma, die bislang aus dem Konsens ausgeschert, ist Roche.

Roche hat eine interne Arbeitsgruppe eingesetzt und die Ergebnisse im Februar vorgestellt. Inwiefern ist das problematisch?

Wir wurden weder einbezogen noch von der Durchführung der Studie informiert. Eigentlich gilt es inzwischen als gute wissenschaftliche Praxis, die Aufarbeitung der NS- oder DDR-Vergangenheit nicht firmenabhängigen Mitarbeitern, sondern unabhängigen Forschern anzuvertrauen. Im Falle von Roche haben wir zwar – zeitgleich mit der Presse – ausgewähltes Material online im Dataroom einsehen können. Der komplette Abschlussbericht liegt uns aber bis jetzt nicht vor.

Roche wird sein Archiv nicht öffnen?

Warten wir es ab. Noch haben wir eineinhalb Jahre Zeit. Die Firmen sorgen sich über die Darstellung nach außen, das verstehe ich. Aber eine wissenschaftliche Aufarbeitung ist keine Skandalisierung.

Empörend ist eher, dass die DDR die Studien zur Devisenbeschaffung genutzt hat.

Da war die DDR nicht allein, auch in Polen und Tschechien wurden honorierte Arzneimittelstudien durchgeführt. Darüber wollen wir uns im Oktober auf einer Tagung mit Kollegen austauschen: Wie ordnen sich die Auftragsstudien in die Entwicklung der Arzneimittelforschung ein? Ist das ein Sonderfall der deutsch-deutschen Geschichte oder ein Beispiel für die Internationalisierung? Außerdem wollen wir vergleichen, wie Kooperationen zwischen Ost und West in anderen Sektoren zustande kamen.

Volker Hess (52) ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Charité und leitet das Projekt „Klinische Arzneimittelforschung in der DDR, 1961– 1989“

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