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Wissen: „Es war leicht, Ärzte und Patienten zu gewinnen“ Historiker über Pharmatests in der DDR

Vom „Pharmatest-Skandal“ der DDR, von „Tatorten“ wie der Charité und von massenhaft kriminellen „Menschenversuchen“ war die Rede, nachdem im Mai der „Spiegel“ über klinische Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in DDR-Kliniken berichtet hatte. Selbst seriöse Blätter hätten vorschnell die „Sprache des Skandals“ benutzt, kritisiert der Neurologe Pascal Grosse vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité.

Vom „Pharmatest-Skandal“ der DDR, von „Tatorten“ wie der Charité und von massenhaft kriminellen „Menschenversuchen“ war die Rede, nachdem im Mai der „Spiegel“ über klinische Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in DDR-Kliniken berichtet hatte. Selbst seriöse Blätter hätten vorschnell die „Sprache des Skandals“ benutzt, kritisiert der Neurologe Pascal Grosse vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité. Er gehört zur Forschergruppe „Klinische Arzneimittelforschung in der DDR 1961–1989“, zusammen mit Laura Hottenrott und Institutsleiter Volker Hess. Im Auftrag der Bundesregierung geht sie dem Vorwurf illegaler oder ethisch verwerflicher Experimente nach.

Der „Spiegel“ hatte schon 1991 unter dem Titel „Das ist russisches Roulette“ über angeblich riskante Versuche westlicher Arzneimittelhersteller an DDR-Bürgern berichtet. Daraufhin setzte der Berliner Senat in Abstimmung mit der Ärztekammer Berlin eine Untersuchungskommission ein. Fast alle Vorwürfe konnte die Kommission damals widerlegen. Sie fand keine Anhaltspunkte dafür, „dass bei klinischen Prüfungen in der ehemaligen DDR grundlegend andere Maßstäbe oder Vorgehensweisen als in der alten Bundesrepublik zur Anwendung kamen“. Die erste Studie stützte sich hauptsächlich auf Befragungen, denn Archive waren kurz nach der Wende noch unzugänglich.

Deshalb hält Harald Mau, Nach-WendeDekan der Charité, eine fundiertere wissenschaftliche Untersuchung für notwendig, obwohl die Versuche in der Charité nach der Wende fast unverändert fortgeführt werden konnten. Mau ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Forschungsprojekts. Es ist auf zweieinhalb Jahre angelegt. Nach dem ersten halben Jahr stellten jetzt Projektmitarbeiter und Gäste das Forschungsthema im Kontext und das Vorgehen der Arbeitsgruppe vor.

Dass Westfirmen für viel Geld an DDR-Patienten ihre Arzneimittel erproben durften, erklärte Matthias Judt (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) mit dem Devisenhunger der DDR und der dort fehlenden Innovation der Arzneimittelentwicklung. Durch die Studien konnten wenigstens einige Kranke mit neuen Medikamenten behandelt werden und die Ärzte sie kennenlernen.

Die vier Säulen der Arzneimittelversorgung in der DDR waren nach Angaben des Pharmazeuten Ulrich Meyer (Uni Greifswald) Importe aus Ost-Ländern, wenige West-Importe, die Herstellung in den Apotheken und zu 80 Prozent Eigenproduktion von Präparaten. Außer zwei kleinen Firmen waren die Hersteller in dem Kombinat „Germed“ mit Stammbetrieb in Dresden zusammengefasst.

„Germed“ beschäftigte sich in einer neuen, noch heute benutzten Anlage mit Nachentwicklungen vieler international bekannter patentfreier Wirkstoffe. Für einige Neuentwicklungen fehlte es laut Mayer in der DDR an pharmakologisch-toxikologischer Forschung, die der gut entwickelten klinischen Arzneimittelforschung hätte vorangehen müssen.

Anfang der achtziger Jahre geriet Germed in Krisen verschiedener Art, zum Beispiel in eine Energiekrise. Wie Meyer berichtete, mussten einmal sowjetische Soldaten mit Flammenwerfern die gefrorene Braunkohle zum Betreiben der Anlage auftauen. Auch gab es Rohstoffmangel und technische Probleme sowie häufige Wechsel des leitenden Personals. „Wegen der Innovationsschwäche in der DDR und wegen des Nimbus der West-Medikamente war es ziemlich leicht, für klinische Arzneimittelstudien Ärzte und Patienten zu gewinnen“, schloss Meyer.

Auch nach dem Arzneimittelgesetz der DDR musste man über die Einbeziehung in eine Studie informiert werden und ihr zustimmen. Im Gutachten von 1991 wurde allerdings bezweifelt, dass die Aufklärung immer genau genommen wurde. Heute kommen Anfragen an die Forschungsgruppe, berichtete Laura Hottenrott. Von Leuten, die wissen wollen, ob sie Versuchen unterzogen wurden oder ob ihre Beschwerden den an ihnen geprüften Medikamenten zuzuschreiben sind.

Solche Fragen werden die Historiker nie beantworten können. Denn in den Studienprotokollen der Kliniken sind die Namen verschlüsselt, und die nach Namen geordneten Patientenakten vor 1983 sind meist nicht mehr vorhanden. Auch über Firmenarchive kann niemand mehr an sein Studienprotokoll gelangen, denn die Aufbewahrungsfrist beträgt nur fünfzehn Jahre und überdies besteht Datenschutz.

Zu den anderen Quellen für die Forscher gehören die Protokolle des Zentralen Gutachterausschusses und die Prüfunterlagen des Beratungsbüros für Arzneimittel der DDR, der Schriftverkehr der Beteiligten, Akten der Stasi, die sich auch für neue Arzneimittel interessierte, Unterlagen der Zulassungsbehörden in Ost und West sowie Zeitzeugen, zählte Laura Hottenrott auf, viel Arbeit für zwei Jahre. Neben der systematischen Erfassung der klinischen Studien plant das Forscherteam eine exemplarische Vertiefung und einen Vergleich des Vorgehens bei Arzneimittelstudien zwischen Ost und West.

Finanziert wird das Vorhaben zu 70 Prozent vom Bundesinnenministerium, den Rest tragen die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Bundesärztekammer und die Landesärztekammern, wenig steuern Pharmaverbände bei. Auch andere Initiativen zur Erforschung des Problems bildeten sich. Mit ihnen trifft sich die Berliner Gruppe regelmäßig. Rosemarie Stein

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