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Beflügelte Wissenschaft. Der Papilio rurikia ist ein Schmetterling aus der Familie der Schwalbenschwänze. Er ist benannt nach dem Expeditionsschiff „Rurik“ und wurde Ende 1815 in Brasilien von den „Rurik“-Forschern gesammelt.

© Aus dem besprochenen Band

Expedition: Dichter, Forscher, Weltreisender

Adelbert von Chamisso war eine Doppelbegabung. Der Autor von "Peter Schlemihls wundersamer Geschichte" glänzte auch als kundiger Naturforscher. Jetzt ist sein Bericht von einer Weltreise vor fast 200 Jahren neu erschienen.

Der Beginn des Semesters an der Berliner Universität im Herbst 1812 markierte einen dramatischen Wendepunkt im Leben des aus Frankreich stammenden deutschen Dichters Adelbert von Chamisso. Er litt bis dahin an seinem Migrantenleben, zerrissen zwischen der französischen Heimat in der Champagne, die die Familie des Grafensohns in den Wirren der Französischen Revolution verließ, und dem Zuflucht gewährenden preußischen Berlin, wo er erst als Page der Königin Friederike Luise und später als Leutnant der Armee diente.

Chamissos Berliner Universitätszeit war der Beginn seiner bemerkenswerten Karriere als Naturforscher. Als solcher wird er jetzt durch zwei neue Buchveröffentlichungen wieder sichtbar, allen voran den poetischen Bericht von seiner „Reise um die Welt“, der gerade als prächtig illustrierter Sonderband in der „Anderen Bibliothek“ neu aufgelegt wurde.

Chamisso ist vornehmlich als Dichter der Romantik bekannt, vor allem als Autor der fantastischen Novelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Die Erzählung um den Handel des Mannes, der seinen Schatten eintauscht, um schließlich mit Siebenmeilenstiefeln um die Erde zu wandern, war einst in Kunersdorf bei Wriezen östlich von Berlin entstanden. Auf Anraten und Vermittlung wohlmeinender Freunde verbrachte der geborene Franzose und Wahlpreuße den Sommer 1813 auf dem Landgut des Grafen von Itzenplitz, um während der Befreiungskriege gegen Napoleon nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Chamisso war nicht nur Zeitgenosse seines Vorbildes Alexander von Humboldt, sondern wie dieser ein vielseitiges Ausnahmetalent. Ihn gibt es gleich zweimal: Da ist zum einen der Dichter und Lyriker, zum anderen der Naturforscher, der sich durch seine vielfältigen Beobachtungen und die gründliche Bearbeitung vor allem von Pflanzen während jener Weltumsegelung einen Namen machte.

Durch glückliche Umstände und dank der Vermittlung von Freunden gelang es Adelbert von Chamisso, als „Titulargelehrter“ und Naturforscher an Bord der russischen Brigg „Rurik“ zu gehen, die unter dem Kommando von Kapitän Otto von Kotzebue von August 1815 bis Oktober 1818 die Welt umsegelte. Die russische Expedition war, wie Chamisso später in seiner Reiseerinnerung schreibt, „ein Hauptstück meiner Lebensgeschichte“. Die „Rurik“ wurde gleichsam zu Chamissos Siebenmeilenstiefeln. Sie trug ihn von Kopenhagen durch den Atlantik, um das Kap Hoorn nach Chile und in die Südsee, nach Hawaii und auf den Ratak-Archipel, die heutigen Marshallinseln. Mit der „Rurik“ gelangte er nach Kamtschatka und Kalifornien, bevor sich die Expedition über die Aleuten und Alaska auf die Suche nach der vermuteten Nordostpassage machte.

Zwar wurde der „Rurik“ eigentliches Reiseziel, eben jene arktische Schiffspassage, nicht gefunden (erst durch die rasche Klimaerwärmung wird sie heute zunehmend schiffbar). Dafür aber gehört Chamissos Reisebericht von einer der letzten wahren Entdeckungsreisen dieses Zeitalters zu den faszinierendsten und einfühlsamsten Schilderungen. Sie steht darin dem Bericht Georg Forsters von dessen Weltumsegelung mit James Cook vier Jahrzehnte zuvor kaum nach.

Geprägt von Forsters aufklärerischen Einsichten, ist Chamissos wenngleich romantische Schilderung der Südsee und Arktis, ihrer Tier- und Pflanzenwelt sowie ihrer Bewohner zugleich von tiefen Einblicken in die Natur der Menschen und ihrem Schicksal geprägt. Tatsächlich wurde Chamissos Journal als eines der besten Werke der deutschen Reiseliteratur gerühmt. Alexander von Humboldt urteilte einst in einem Brief an Chamisso: „Diese Weltumsegelung, schon veraltet, hat durch Ihre Individualität der Darstellung den Reiz eines neuen Weltdramas erhalten.“ Das eigene Genre des literarischen Reiseberichts, das nicht zuletzt Forster mit seinem Werke begründet hat, setzte Chamisso meisterhaft fort.

Mit den Lithographien des Zeichners Ludwig Choris (1795–1828), der Chamisso an Bord der „Rurik“ begleitete, wurde jetzt für die Neuausgabe der „Reise um die Welt“ ein bislang beinahe gänzlich unbekannter Schatz gehoben. Denn die zwei Folio-Bände, in denen Choris nach seiner Rückkehr 1822 und 1826 in Paris seine Zeichnungen und Skizzen veröffentlichte, zählen zu den Rara und waren nicht mehr verfügbar. Im Sonderband der „Anderen Bibliothek“ wurden jetzt erstmals sämtliche bekannte 150 Illustrationen der Expedition zusammengetragen; sie ergänzen als meist farbige Dokumentation Chamissos Reiseeindrücke.

Zu Recht haben Chamissos erste Biografen, allen voran der Berliner Physiologe und Naturforscher Emil du Bois-Reymond, ihn als einen der „seltensten literarischen und wissenschaftlichen Gestalten“ gewürdigt. Heute ist seine faszinierende Vielseitigkeit kaum noch bekannt. Mehr als Goethe, Forster oder Humboldt besaß Chamisso eine schriftstellerische, ja poetische Begabung und zugleich die Neugierde und den Drang zur Naturkunde. Doch versuchte er Zeit seines Lebens, diese beiden Seiten seiner Persönlichkeit nicht miteinander zu vermengen; vielmehr wurden Naturwissenschaft und Dichtkunst streng getrennt.

„Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen“, betonte Chamisso im Bericht seiner Reise. Auch Bois-Reymond hob hervor, dass Chamisso es vermeide, „ästhetische Träumereien mit naturwissenschaftlichen Anschauungen zu vermischen“. Er sei „ganz und voll ein Naturforscher im besten Sinne des Wortes, und das zu einer Zeit, da man sie ... in dem durch Naturphilosophie hypnotisierten Deutschland mit der Leuchte suchen musste“. Chamisso steht nicht nur zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Royalisten, Revolution und Republik, er steht auch zwischen den Kulturen und Disziplinen, die freilich zu seiner Zeit noch nicht unüberbrückbar getrennt waren.

Als Naturforscher war Chamisso ein Spätberufener. Zwar begann der zurückgezogene Junge früh, die Natur zu beobachten, doch verleugnete er lange seine naturkundlichen Neigungen und erkannte erst spät seine eigentliche Berufung, die ihn schließlich nach Berlin und auf die „Rurik“ führte. Dennoch hat Chamisso die Naturkunde seiner Zeit und auf seine Weise wie mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen und ist dabei seinen Zeitgenossen oft weit vorausgelangt. Nach der Rückkehr von der Weltreise galt sein Hauptinteresse der wissenschaftlichen Auswertung des mitgebrachten naturkundlichen Materials. Chamisso wurde 1819 zweiter Kustos, 1833 erster Kustos am Königlichen Herbarium und Botanischen Garten zu Berlin-Schöneberg. Doch er arbeitete nicht nur als Botaniker; vielmehr war er ein allgemein interessierter Naturforscher, der sich auch Zoologie und Ethnologie widmete.

Obgleich zu Lebzeiten viel diskutiert, wurde die Bedeutung von Chamissos Beobachtungen während der Weltreise, etwa zum Lebenszyklus mariner Meerestiere, dem Bau von Korallenriffen oder der biologischen Bedeutung von Arten, später kaum noch gewürdigt. Auch seine 1827 in Berlin als eine Art erstes botanisches Schulbuch publizierten „Ansichten von der Pflanzenkunde“, in denen er Gedanken zum Artkonzept in der Biologie vorwegnahm, sind viel zu wenig beachtet worden, wie auch viele andere seiner naturkundlichen Abhandlungen.

Unter diesen sticht Chamissos auf lateinisch verfasste Wal-Schrift von 1824 besonders hervor. Darin bespricht Chamisso die Merkmale und Biologie verschiedener Walarten des nördlichen Pazifiks anhand von Modellen, damals durchaus ein nicht nur origineller, sondern wissenschaftlich wertvoller Beitrag zur Walkunde, der das mündlich überlieferte Wissen von Einheimischen festhielt und in den europäischen Wissenskontext übersetzte. Das Werk wurde von der Literaturwissenschaftlerin Marie-Theres Federhofer übersetzt und, mit Anmerkungen versehen, im Verlag der Kulturstiftung Sibirien neu herausgegeben. Es lässt sich als ethnografisches Dokument lesen, das zugleich von Chamissos Umgang mit fremden Kulturen zeugt.

In „Chamisso und die Wale“ sind die sechs von Aleuten geschnitzten Walmodelle auch farbig dokumentiert, die heute noch im Museum für Naturkunde in Berlin aufbewahrt werden. Zusammen mit weiteren etwa 170 Objekten, die er einst von der „Rurik“-Reise mitbrachte und die erst jetzt – ebenso wie der Naturforscher selbst – dort wiederentdeckt werden.

Adelbert von Chamisso starb am 21. August 1838 in Berlin. An der Staatsbibliothek Berlin, die seinen 34 Archivkästen umfassenden Nachlass wissenschaftlicher, literarischer und privater Schriften aufbewahrt, wurde vor einem Jahr begonnen, diesen zu erschließen und zu digitalisieren. Die anschließende Untersuchung ist Arbeit für zukünftige Generationen von Studenten, die sich jetzt im Herbst wie einst Chamisso an den Berliner Universitäten einschreiben.

Der Autor ist Biologe am Museum für Naturkunde und hat das Nachwort zu Chamissos „Reise um die Welt“ verfasst (Die Andere Bibliothek, 450 Seiten, 79 Euro). „Chamisso und die Wale“ von Marie-Theres Federhofer erschien im Verlag der Kulturstiftung Sibirien (132 Seiten, 28 Euro).

Matthias Glaubrecht

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