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Margarete von Wrangell in einem Versuchsfeld an der Hochschule Hohenheim.

© Universität Hohenheim

Margarete von Wrangell, erste ordentliche Professorin: Experimente von nationalem Interesse

Die Düngerforscherin Margarete von Wrangell war Deutschlands erste ordentliche Professorin – gegen den Widerstand von Kollegen.

Zeitlebens haben Margarete von Wrangell und ihre Mutter eine enge Beziehung zueinander: „ … am ersten Tag des Weihnachtsfestes wurde unser Daisychen (Margarete) geboren. Wir empfingen dieses Geschenk als eine besondere Gnade Gottes“, heißt es in den Erinnerungen Ida von Wrangells über die Geburt ihres dritten Kindes 1877 in Moskau. Die Familie Wrangell zählt zum baltisch-deutschen Uradel mit repräsentativen Herrensitzen. Die Wrangell-Kinder wachsen mehrsprachig auf. Der Vater kämpft als Offizier für den russischen Zaren, zu dessen Herrschaftsgebiet Estland zu dieser Zeit gehört. Seine Karriere führt zu Wohnortwechseln von Moskau nach Ufa, zurück nach Moskau und von dort nach Reval.

Zunächst erhält die Tochter Privatunterricht und besucht später eine deutsche Mädchenschule. Arithmetik, Naturkunde und Philosophie avancieren zu ihren Favoriten. Sie liest Homer und Vergil im Original, legt 1894 das Lehrerinnenexamen ab und unterrichtet an einer Mädchenschule.

Chemie studieren? Eine verrückte Idee, findet die Verwandtschaft

Kindheit und Jugend sind von Verlusten überschattet. Im Laufe der Jahre 1888/89 sterben sowohl die Schwestern wie auch Großvater und Vater, zehn Jahre später der einzige Bruder. Wie um dem Tod zu trotzen, hatte sich der an Tuberkulose erkrankte Nikolai in Zürich für Chemie immatrikuliert. Erst als Margarete selbst erkrankt und Depressionen entwickelt, emanzipiert sie sich von der Familientradition. Sie tarnt die Teilnahme an einer botanischen Sommerakademie der Universität Greifswald 1903 als Sanatoriums-Aufenthalt und beschließt, Chemie zu studieren. Die konservative Verwandtschaft hält diesen Wunsch für eine „verrückte Idee“. Verständnis findet sie bei Mutter und Tante. Aufgrund der deutschen Wurzeln ziehen die drei Frauen gemeinsam nach Tübingen, wo sich die 27-Jährige für Chemie und Botanik einschreibt. Dies ist nur möglich, weil das Königreich Württemberg seit 1904 Frauen zum ordentlichen Studium zulässt.

Nach anfänglichem Staunen begegnen die Kommilitonen den Studentinnen galant. „Studenten gibt es hier vierzehnhundert ungefähr und fast alles verstümmelte Korpsburschen mit Hunden. Damen sind bis jetzt nur drei, hoffentlich Antiduellantinnen“, äußert sich Margarete von Wrangell ironisch. Gemeinsam erkunden die Studierenden das Hohenzoller Land und schwimmen im Neckar, bevor im Winter die Schlittschuhe herausgeholt werden.

Die Baltin fokussiert sich auf organische Chemie und promoviert 1909 mit „summa cum laude“. Wie in begüterten Familien üblich, forscht sie während ihrer „Wanderjahre“ unbezahlt: Sie wendet sich der innovativen Radiochemie zu – ein Fach, das viele Frauen anzieht – und arbeitet in dem Londoner Labor des Nobelpreisträgers Sir William Ramsay und bei der Nobelpreisträgerin Marie Curie in Paris. Je angesehener Margarete von Wrangell in der Chemiker-Gemeinde wird, desto mehr nimmt sie als „einzige Dame“ ihre Sonderrolle wahr.

In Küstenablagerungen sucht Wrangell neue Phosphorquellen

1912 wird ihr die Leitung der Versuchsstation des estnischen Landwirtschaftlichen Vereins angeboten, wo ihre Aufgaben in der Kontrolle von Saatgut, Futter und Düngemittel liegen. Mit Instinkt für brisante Themen forscht sie über Mineraldünger, der sich aus Kalium, Phosphorsäure und Stickstoff zusammensetzt. Dank des neuartigen Düngers sind die Ernteerträge im Deutschen Reich in den Vorkriegsjahren rasant gestiegen. Phosphor kann nur in wenigen deutschen Regionen wie Lothringen und dem Saarland abgebaut werden. Margarete von Wrangell versucht, in den baltischen Küstenablagerungen neue Phosphorquellen zu finden. Außerdem analysiert sie, wie Pflanzen dank einer speziellen Düngermischung so stimuliert werden können, dass diese die im Boden vorhandenen, schwer löslichen natürlichen Phosphate besser verwerten.

Nach der Oktoberrevolution übernehmen die Bolschewiken 1917 in Estland die Macht. Die deutschnational denkende Baltin weigert sich, die Versuchsstation an ein Revolutionskomitee zu übergeben und kommt in Haft. Im Februar 1918 befreien die einmarschierenden deutschen Truppen die Häftlinge. Die Heeresleitung beginnt sich für die Arbeiten der Agrochemikerin zu interessieren. Ab August 1918 setzt sie ihre Experimente an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim fort. In der Nachkriegszeit drohen Hungerepidemien, die Spanische Grippe grassiert. Durch die rasante Inflation gestaltet sich der Import von Phosphorsäure schwierig ebenso wie der von Kunstdünger und Nahrungsmitteln. Wrangells Versuche wecken deshalb das Interesse von Politik und chemischer Großindustrie.

Eine Stelle in Berlin - Wrangell bleibt ein Jahr

1920 habilitiert die Agrochemikerin über „Die Gesetzmäßigkeiten der Phosphorsäureernährung von Pflanzen“ in Hohenheim. Der Rektor der Hochschule, Friedrich Aereboe, nutzt ihre Ergebnisse als Grundlage für ein neu entwickeltes Düngungssystem, die Aereboe-Wrangell-Düngung, mit der Deutschland vom Import ausländischer Rohphosphate unabhängig werden soll.

Begeistert bietet Nobelpreisträger Fritz Haber der Wissenschaftlerin eine Stelle am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie an, wo sie 1922 für ein Jahr forscht. Basierend auf der Entdeckung der Ammoniaksynthese aus Luftstickstoff 1908 hatten die Chemiker Haber und Carl Bosch ein großtechnisch genutztes Verfahren entwickelt, um den für Kunstdünger ebenfalls notwendigen Stickstoff industriell herzustellen, der im Ersten Weltkrieg auch für Munition und Sprengstoff gebraucht wurde. Nach dem Krieg wissen Industriefirmen wie die BASF in Ludwigshafen und die IG Farben nicht, was sie mit der noch gelagerten gewaltigen Menge an Stickstoff anfangen sollen. Der Vorstandsvorsitzende Hermann Warmbold, der Margarete von Wrangell 1918 an die Hochschule Hohenheim holte, sieht in der Aereboe-Wrangell-Düngung eine Möglichkeit, die Überproduktion abzubauen.

Protest der Hohenheimer Kollegen gegen die "Ausländerin"

Margarete von Wrangells Netzwerk sorgt dafür, dass das Reichsernährungsministerium 75 Millionen Mark aus den Spenden der Düngemittel-Industrie zur Verfügung stellt. In Hohenheim soll hiervon ein Institut für Pflanzenernährung mit Laboratorien und Versuchsfeldern finanziert werden. Das württembergische Kultusministerium verspricht, für die laufenden Institutskosten und das Gehalt der Professorin aufzukommen. Da Wrangells Experimente von nationalem Interesse sind, wird die Wissenschaftlerin über die Fachgrenzen hinaus bekannt.

Doch ein Teil der Hohenheimer Professorenschaft wehrt sich entschieden gegen die Ausländerin. Kurz vor der Ernennung werden Vorwürfe laut, Margarete von Wrangell hätte ihre Ergebnisse abgeschrieben. Auch das Düngesystem kommt in Misskredit und setzt sich dauerhaft nicht durch, obgleich sich auf Grund der Wrangellschen Forschung „die Phosphorsäuredüngung in Deutschland erheblich reduziert“, wie Ulrich Fellmeth, Leiter des Archivs und des hochschulgeschichtlichen Museums der Universität Hohenheim, erklärt.

In dieser Situation wendet sich die Chemikerin im Februar 1923 direkt an den württembergischen Staatspräsidenten. Aus Angst, das Land könne ein geplantes Vorzeigeinstitut verlieren, beruft dieser sie rückwirkend an den Gremien vorbei zur ersten ordentlichen Professorin Deutschlands sowie zur Institutsleiterin. „Hier diktierte Margarete von Wrangell die Bedingungen und weder die württembergische Regierung noch der Hohenheimer Konvent hatten eine Chance zu widersprechen, wollte man das Institut aus Reichsmitteln nicht verlieren“, resümiert Ulrich Fellmeth.

Heiraten? Dafür braucht die Professorin eine Sondergenehmigung

Bis zu ihrem Tod 1932 baut Wrangell das Institut zum internationalen Forschungszentrum für Pflanzenernährung aus. Sie betreut Dissertationen, veröffentlicht Fachartikel über Phosphatdüngung, gibt die Fachzeitschrift „Die Düngerlehre“ heraus und arbeitet als Gutachterin. Die jahrelangen Auseinandersetzungen verstärken ihren herrisch-autoritären Charakterzug. „So bin ich denn eine ernste, äußerst objektive Frau der Öffentlichkeit. Von Bubikopf keine Rede, und die Brille trage ich freilich nicht so auf der Nase, aber in der Seele und das ist viel schlimmer“, charakterisiert sie sich in einem Brief an ihren Jugendfreund Fürst Wladimir Andronikow 1926.

Inwieweit die Professorin den behinderten und verarmten Freund aus Fürsorge oder Liebe aufnimmt, bleibt offen. Vor der Heirat mit ihm im Jahr 1928 muss sie eine ministerielle Ausnahmeregelung erbitten, um als verheiratete Frau nicht entlassen zu werden.

Mit 55 Jahren stirbt die Margarete von Wrangell an Nierenversagen. Kurz nach ihrem Tod verfasst ihr Mann eine geschönte Biografie, die zur Legendenbildung beiträgt. Das Buch avanciert im Dritten Reich zum Bestseller, indem es die Chemikerin im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie als Heldin und Übermutter stilisiert. In der Bundesrepublik allerdings gerät die erste deutsche Professorin in Vergessenheit.

Erst die Genderforschung entdeckt sie in den Siebzigerjahren wieder. Seit 1997 schreibt das Land Baden-Württemberg das Margarete von Wrangell-Habilitationsprogramm aus, um qualifizierte Wissenschaftlerinnen zur Habilitation zu ermutigen. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Universität Hohenheim ist in der Säulenhalle des Schlosses bis zum 1. Oktober eine Ausstellung über Margarete von Wrangell zu sehen.

Von der Autorin ist unlängst ein Buch zum Thema erschienen. Felicitas von Aretin: Mit Wagemut und Wissensdurst – Die ersten Frauen in Universitäten und Berufen (Elisabeth Sandmann Verlag, 208 Seiten, 24,95 Euro).

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