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Wissen: Fehlstellen im Blick

Karl Schlögel über 100 Jahre Osteuropaforschung.

Bisweilen erinnern Jubiläen daran, dass sich so viel nicht verändert hat. Otto Hoetzsch, Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus auf Seiten der Deutsch-Konservativen Partei, verfasste im Februar 1913 eine Denkschrift: „Man spricht allgemein von einer großen Bedeutung des Russischen Reiches für Deutschland in politischer und wirtschaftlicher Beziehung. Aber das Urteil über das Land selbst, über seine wirtschaftliche Lage und Zukunft wie über seine militärische Kraft ist außerordentlich unsicher.“ Kurz darauf wurde die Deutsche Gesellschaft zum Studium Russlands gegründet, die sich später in Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) umbenannte. Die DGO feiert am heutigen Donnerstag ihren 100. Geburtstag im Auswärtigen Amt mit einem Festakt, dem sich Freitag an der Humboldt-Universität eine Tagung zum Thema „TransNational. Osteuropa im Wandel“ anschließt.

Osteuropa befindet sich in stetem Wandel, und unser Urteil über Russland ist nach wie vor „außerordentlich unsicher“. Die Aufgabe der DGO ist also unvermindert aktuell. Doch nicht nur zum Jubiläum sollte der Blick auch zurück gehen; auf die Fehlstellen, die durch die politischen Verwerfungen gerade zwischen Deutschland und Russland im 20. Jahrhundert entstanden sind. Für diesen besonderen Blick steht Karl Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), der den Festvortrag zum Jubiläum halten wird – und heute seinen 65. Geburtstag feiert.

In seinem Vortrag, der im druckfrischen Heft der von der DGO herausgegebenen Zeitschrift „Osteuropa“ zum Nachlesen bereitliegt, unternimmt Schlögel eine tour d’ horizon durch 100 Jahre Osteuropaforschung. Sie war stets interessengeleitet und musste die zeithistorischen Brüche von 1918, 1933 und 1945 mitvollziehen. Aber eben auch den positiven Bruch, den die Perestrojka und das Ende des Sowjetimperiums markieren: „Die Europäer machten die Entdeckung, dass es noch ein anderes Europa gab, das, wenn überhaupt, nur eine höchst periphere und marginale Rolle spielte“, schreibt Schlögel. Da klingt sein eigener, beinahe prophetischer Buchtitel an, „Die Mitte liegt ostwärts“ aus dem Jahr 1986. Damals schien der Fall des Eisernen Vorhangs noch ein belächelnswerter Traum von gestern zu sein. Doch der Traum, der Wirklichkeit wurde, zog alsbald vorüber: „Vieles kam, so die Stimme der Enttäuschten, nicht so voran, wie man es sich vorgestellt hatte.“ Schärfer noch: „Das ist die Stunde der Resignation und des Rückzugs.“

Doch Schlögel hält auch Tröstliches bereit: Die Osteuropastudien jedenfalls seien höchst lebendig. Wahrscheinlich gebe es kein anderes Land, „in dem die Beschäftigung mit Osteuropa so breit, so intensiv, so reich und institutionell so wohl verankert betrieben wird wie in Deutschland.“ Schlögel ist derjenige, der dem deutschen Publikum die Augen geöffnet hat über den Reichtum der Kultur(en) Russlands und Mittelosteuropas. Als Flaneur, aber mit allem Vor-Wissen ausgerüstet, hat er diese zur terra incognita gewordenen Räume durchmessen, in Büchern wie „Moskau lesen“ (1984) oder „St.Petersburg. Laboratorium der Moderne 1909-1921 (2002). Bernhard Schulz

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