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Forschung: Chinesische Missionare für Europa

Gottfried Wilhelm Leibniz wollte den Westen des 17. Jahrhunderts durch den Austausch mit dem Reich der Mitte modernisieren. Hinter den Konflikten, die heute zwischen China und der westlichen Welt schwelen, steckten tief in der Kulturgeschichte wurzelnde Ursachen.

Für Gottfried Wilhelm Leibniz war China „das andere Ende Europas“. Die Aussagen des großen deutschen Philosophen zu China seien weiter hochaktuell, sagt Wenchao Li, der seit einem guten Jahr die Potsdamer Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften leitet. Der Universalgelehrte Leibniz (1646–1716) hat schon vor mehr als 300 Jahren global gedacht und dabei mit viel Energie für einen Kulturaustausch zwischen Europa und China plädiert.

Der gebürtige Chinese Wenchao Li betreut einen Teil der Leibniz-Gesamtausgabe, an der seit Anfang des 20. Jahrhunderts gearbeitet wird. In Potsdam werden die politischen Schriften ediert. Im Frühjahr 2008 erschien in dieser Reihe der VI. Band, der unter anderem Leibniz’ wichtigste Schrift zum Verhältnis Europa und China enthält: die Novissima Sinica von 1697.

Im 17. Jahrhundert war China aus europäischer Sicht das größte Wirkungsfeld für die christliche Mission. Leibniz appellierte an die protestantischen Länder, die Mission in China nicht allein den Katholiken zu überlassen. Allerdings ging es dem Gelehrten nicht um Religion, sondern um die europäische Wissenschaft und Technik, die auf diesem Wege nach China gelangte. Missionare waren als Techniker, Kanonenbauer oder Astronomen am chinesischen Kaiserhof überraschend hoch geachtet. Und mit seiner Einschätzung, dass vor allem Wissenschaft und Technik als größte Errungenschaft der europäischen Zivilisation für die Chinesen von Bedeutung war, lag Leibniz nicht falsch, sagt Li.

Ungewöhnlich für seine Zeit ist, dass Leibniz aus dem Interesse der Chinesen an den europäischen Zivilisationsleistungen ableitete, dass auch Europa von Chinas Kultur lernen könne und müsse. „Lasst uns unsere Verdienste zusammenwerfen und Licht am Lichte anzünden“, schreibt Leibniz 1692 in einem Brief an den China-Missionar, Ingenieur und Direktor des Astronomischen Amtes in Peking Claudio Filippo Grimaldi. „Austausch, lernen, profitieren, so dass dadurch etwas Vorzügliches, Vernünftiges für beide Seiten herauskommt“, das waren Leibniz’ Vorstellungen.

Leibniz schlug vor, hierzulande die praktische Philosophie der Chinesen einzuführen. Er hatte die Vision, chinesische Missionare nach Europa zu schicken, um die Europäer in konfuzianischer Sittenlehre zu unterrichten. Die Europäer müssten außerdem an dem Erfahrungswissen dieser 3000 Jahre alten Zivilisation teilhaben, befand Leibniz. Von dem medizinischen Wissen oder chinesischer Staatsführung – bis zum Anfang der Aufklärung galt ein auf das Gemeinwohl bedachter absoluter Regierungschef als vorbildlich – könne man in Europa profitieren.

„Leibniz hat immer wieder darauf hingewiesen, dass wir zu wenig über Sprache, Geschichte, Philosophie, Literatur und Menschen in China wissen, um sichere Urteile zu fällen,“ sagt der Wissenschaftler Wenchao Li. Als Begründer der Kurfürstlich-Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften (heute Berlin-Brandenburgische Akademie) war es um 1700 Leibniz’ Anliegen, mit dieser Institution auch die China-Forschung für eine zukünftige Zusammenarbeit mit China voranzutreiben. Leibniz wollte chinesische Literatur und Geschichte übersetzen lassen und die Missionare schon ausgebildet nach China schicken für ein Zusammenleben zu beiderseitigem Nutzen.

Als durch den sogenannten Ritenstreit zwischen verschiedenen katholischen Orden, ausgetragen auf chinesischem Boden, die Mission in China zum Erliegen kam, verließen die Missionare das Land. Für Leibniz, der nie selbst die zwei bis drei Jahre dauernde Reise nach China antrat, brach damit der Briefkontakt nach Peking und Kantung ab. Als Pragmatiker, der im Ritenstreit eine Bagatelle sah, versuchte er in Rom zu vermitteln, hatte aber dort als Protestant nichts zu sagen. Leibniz appellierte nun an die Forschung, an einem Gesamtbild der chinesischen Geschichte zu arbeiten und die chinesischen Quellen „wohlwollend“ zu interpretieren. Er wollte den Zugang zu dieser Zivilisation zum Vorteil Europas unbedingt offen halten, sagt Li, und war immer an einer Handreichung von europäischem und asiatischem Denken interessiert.

Für den Wissenschaftler Wenchao Li, der sich in China und in Europa zu Hause fühlt, ist die Leibnizsche Herangehensweise an die Begegnung zwischen den Kulturen wegweisend für die modernen Probleme. Er will Leibniz-Forschung im aktuellen Kontext betreiben. Hinter den Konflikten, die heute zwischen China und der westlichen Welt schwelen, steckten tief in der Kulturgeschichte wurzelnde Ursachen. Chinas Probleme seien nicht einfach zu reduzieren auf eine Frage von Diktatur oder Demokratie, Regime und Partei. „Das politische System ist vermutlich nicht von der Kultur zu trennen“, meint Li. Insofern sei es unbedingt wichtig, Grundlagenforschung zur chinesischen Denkweise zu betreiben, um die aktuellen Probleme besser zu verstehen und zu vernünftigen Lösungen zu kommen.

Seit Jahren arbeitet Wenchao Li gemeinsam mit dem Berliner Philosophen Hans Poser daran, die kulturellen Schichten zu aktuellen Problemen in China freizulegen. Ein Beispiel etwa für den blinden Technikoptimismus der Chinesen sei der Drei-Schluchten-Staudamm. „Wir sprechen jedem Menschen Vernunft zu“, sagt Li ganz im Sinne des Leibnizschen Denkens, „und fragen dann: Warum kann er etwas vertreten, was nicht in unser Konzept passt?“

Wenchao Li sieht sich in der Rolle des Vermittlers, der aufgrund seiner Herkunft und seiner wissenschaftlichen Ausbildung in Deutschland seit 1982 mit zwei unterschiedlichen Denkungsarten vertraut ist. In China hat er gleich nach seiner Habilitation eine Leibniz-Forschungsstelle gegründet, zuletzt eine Forschungsstelle für deutschsprachige Technikphilosophie.

In Deutschland betreut er seit kurzem neben seiner Arbeit für die Leibniz-Edition ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Freien Universität bewilligtes Projekt, das klären will, was für die Chinesen bis zum 17. Jahrhundert eigentlich „Wissen“ war. „Philosophie“, sagt der Philosoph Wenchao Li, habe es bis zum 18. Jahrhundert in China als Wort gar nicht gegeben: „Aber was gab es dann?“

Bettina Mittelstraß

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