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Ganz der Vater. Die Neigung zu hohem Alter wird einem in die Wiege gelegt. Foto: Imago

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Genetik: Altern in Zeitlupe

Ein bestimmtes Muster im Erbgut erhöht die Chance, 100 Jahre zu werden. Dabei handelt es sich aber nicht um einige wenige „Methusalem-Gene“, sondern um viele kleine Veränderungen, die über das gesamte Genom verteilt sind.

Jeanne Louise Calment mochte Portwein und Zigaretten. Sie begann mit 21 Jahren zu rauchen und hörte erst kurz vor ihrem Tod auf. Dennoch erreichte Calment mit 122 Jahren ein unglaubliches Alter. Es ist ein Extremfall, aber fast jeder kennt ähnliche Geschichten, von Menschen, die kaum Sport machen, dem Alkohol frönen, die Jahrzehnte lang rauchen oder sich ungesund ernähren und trotzdem uralt werden. So mancher schüttelt da nur den Kopf und murmelt: gute Gene. Und das ist offenbar richtig.

Forscher haben nun herausgefunden, dass Menschen wie Calment ihr langes Leben tatsächlich zu einem guten Teil ihren Genen verdanken. Der Mediziner Thomas Perls und seine Kollegen von der Universität Boston verglichen das Erbgut von 801 Amerikanern, die zwischen 95 und 119 Jahren alt waren, mit dem von 926 jüngeren Menschen. 300 000 Stellen nahmen sie dabei unter die Lupe. Das Ergebnis: Es gibt eine Art genetisches Muster, das die Superalten eint.

Dabei handelt es sich aber nicht um einige wenige „Methusalem-Gene“, sondern um viele kleine Veränderungen, die über das gesamte Genom verteilt sind. Insgesamt 150 wichtige Unterschiede machten die Forscher aus. An diesen Stellen unterschieden sich Menschen, die uralt werden, besonders häufig von anderen Menschen. „Es ist also möglich, anhand der Gene vorherzusagen, ob Menschen so lange leben – und zwar ohne irgendwelche anderen Risikofaktoren anzuschauen“, schreiben die Wissenschaftler online im Fachmagazin „Science“. „Das ist ein Meilenstein in der Forschung zu extremer Langlebigkeit“, sagt Markus Nöthen, Humangenetiker an der Uni Bonn.

Schon lange suchen Wissenschaftler nach dem „Gen der Hundertjährigen“. Aber sie haben es genauso wenig gefunden, wie das eine Gen für Körpergröße, Intelligenz oder Diabetes. 2008 hatten Forscher zwar gemeldet, eine bestimmte Variante des Gens Foxo3a komme bei uralten Menschen besonders häufig vor. Aber der Effekt dieses einzelnen Gens ist gering. So ergab sich aus einer deutschen Studie, dass Menschen mit der „richtigen“ Variante 1,5-mal so wahrscheinlich 100 Jahre alt werden wie Menschen ohne sie. „Es ist naiv zu glauben, ein einziges Gen könne vorhersagen, ob ein Mensch uralt wird“, sagt Perls. „Es ist eher wie beim Lottospiel. Nur braucht man halt nicht sechs richtige, sondern 150.“

Perls und seine Kollegen suchten deshalb auch nicht nach dem Effekt eines einzelnen Gens. Stattdessen vereinten sie die 150 wichtigsten genetischen Unterschieden, die sie zwischen Jung und Alt fanden, zu einem Modell, das vorhersagt, ob ein Mensch uralt wird oder nicht. Dieses testeten sie dann an einer zweiten Gruppe von Menschen: 254 Amerikanern im Alter von 90 bis 114 Jahren und 341 jüngeren Personen. Bei 77 Prozent der Personen konnten die Forscher so richtig vorhersagen, ob sie lange leben oder nicht.

Ist es also in den Genen festgelegt, wie lange wir leben? Nein, sagt Perls. Das gelte nur für die Menschen, die uralt werden. „Untersuchungen haben gezeigt, dass bei uns Durchschnittsmenschen die Gene nur zu etwa 20 Prozent darüber entscheiden, wie alt wir werden. Wichtiger sind Umwelteinflüsse.“ Wer sich gesund ernähre, regelmäßig Sport treibe, nicht rauche und Stress vermeide, der habe heute gute Chancen, älter als 80 Jahre zu werden. Das bestätigt eine Studie unter Mitgliedern der Freikirche der Sieben-Tages-Adventisten in Kalifornien. Menschen, die dieser Religionsgemeinschaft angehören, leben im Schnitt bis zu zehn Jahre länger als andere Kalifornier. Vermutlich, weil die Kirche ihre Mitglieder zu einem gesunden Lebensstil anhält: Tabak und Alkohol zu meiden, sich vegetarisch zu ernähren, sich regelmäßig zu bewegen und einen Ruhetag einzuhalten. „Diese Leute werden im Schnitt 88 Jahre alt. Das können vermutlich alle erreichen“, sagt Perls.

Aber, ob ein Mensch 100 Jahre oder sogar älter wird, das ist eine andere Geschichte. „Sie brauchen sich diese Menschen, die wir untersucht haben, nur angucken“, sagt Perls. „Das ist körperlich eine ganz andere Gruppe als Menschen, die 80 werden.“ Sie würden nicht nur sehr alt, sondern blieben dabei auch sehr gesund. „Demenz, Parkinson, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, das setzt bei diesen Menschen alles deutlich später ein.“ Die Forscher stellten fest, dass das Erbgut bei etwa 15 Prozent der jüngeren Menschen dem uralter Menschen gleicht. Möglicherweise trägt also jeder Siebte das Potenzial in sich, 100 zu werden. „Das sind ungeheuer gute Nachrichten“, sagt Perls.

Die größte Überraschung: Nur eine Handvoll der genetischen Methusalem-Merkmale fanden sich in Krankheitsgenen. „Wer uralt wird, dem fehlen nicht einfach nur Krankheitsgene“, sagt Nöthen. Stattdessen gebe es offenbar bestimmte genetische Varianten, die direkt langes Leben begünstigen. Hat man die erst mal, dann sind womöglich Krankheitsgene nicht so entscheidend.

„Das bedeutet: Selbst wenn Sie einen genetischen Test machen und sie haben Genvarianten, die Sie für bestimmte Krankheiten veranlagen, kann es immer noch sein, dass sie auch diese Langlebigkeitsvarianten haben – und die sind wichtiger“, sagt Perls. Wie genau diese Varianten ein langes Leben begünstigen, das ist noch völlig unklar. Das gelte es jetzt zu erforschen, sagt Perls. Er hofft, besser zu verstehen, wie ein Körper altert und warum das bei manchen Menschen so viel langsamer passiert.

Außerdem sei die neue Methode, genetische Unterschiede zu finden, hoffentlich auch bei Krankheiten wie Parkinson und Diabetes anwendbar und würde auch dort Neues ans Licht bringen. Der offensichtlichsten Anwendung aber, einem genetischen Test, ob man 100 wird, steht Perls kritisch gegenüber. „Natürlich werden viele Menschen das machen wollen, aber wir sollten erst einmal verstehen, was Menschen dann mit dieser Information anfangen wollen.“

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