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Geschichte: Wir Patchwork-Europäer

Diktaturen aber auch die europäischen Gesellschaften gehen davon aus, dass gute Gesellschaften möglichst homogen sein müssten. Die heutige Gesellschaft der Pluralität muss lernen ohne Konflikte zu leben. Die Politik wird nur vermindert helfen können.

"Europa" als historischer Raum ist für Zeithistoriker heute immer noch schwer vorzustellen. Denn auch fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer hat man es im Grunde noch mit zwei europäischen Geschichten zu tun, einer west- und einer osteuropäischen. Gibt es trotzdem Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westeuropa? Eine Möglichkeit wäre die Vorstellung, die man sich von einer guten Gesellschaft machte. Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel haben unlängst argumentiert, dass die Gewaltpolitik des Bolschewismus und des Nationalsozialismus sich aus Reinheitsfantasien speiste, die aus der Überzeugung resultierten, dass homogene Gesellschaften heterogenen Gesellschaften überlegen seien, dass Ähnlichkeit fortschrittsträchtiger sei als Vielfalt.

Damit ist sicherlich ein wichtiger Beweggrund für die zerstörerische Potenz der beiden Ideologien erfasst. Allerdings trifft die Vorstellung, eine gute Gesellschaft müsse möglichst homogen sein, nicht allein für totalitäre Diktaturen zu. Vielmehr haben wir es hierbei mit einem Grundmotiv aller europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu tun. Auch die sozialstaatlichen Demokratien westlichen Musters zielten nach innen auf eine Angleichung von Lebenslagen und Einstellungen, von eindeutigen Zugehörigkeiten und vergleichbaren Lebensläufen.

Die Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft ist so europäisch wie sie historisch ist. Sie hängt zusammen mit der Ausbildung der modernen Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert politische Strukturen auszubilden begannen, die in der Lage waren, in das Leben der vielen substanziell einzugreifen. Die Schulpflicht, die allgemeine Wehrpflicht, neue Formen der sozialen Sicherung, die diese großen Gruppen umfassten: Dies waren in ganz Europa Prozesse, die seit dem späten 19. Jahrhundert nicht nur immer stärker standardisierte Lebensformen entstehen ließen, sondern die auch Politiken hervortrieben, welche ihr politisches Ziel in ebendieser Standardisierung sahen.

Inwieweit dies etwas spezifisch Europäisches ist, zeigt ein kurzer Blick nach Amerika. Die Idee vom melting pot war ebenfalls eine Vision der Gesellschaft der Ähnlichen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass diese Idee sehr weitgehend auf der Ebene der Ideologie und der kollektiven Moral verblieben ist, dass politische Strategien der Angleichung weit hinter dem zurückblieben, was in Europa mit großer Energie versucht wurde.

Fragen wir nach einigen Feldern, in denen die europäischen Gesellschaften homogener gemacht wurden: Das erste Stichwort muss wohl "Arbeit" heißen. Die moderne industrielle Arbeitsgesellschaft hat die Menschen zu immer ähnlicher werdenden Lebensformen bewegt - oder gezwungen. Heute sind überall in Europa 80 bis 90 Prozent von Lohnarbeit abhängig. Damit gingen geteilte Zeitordnungen einher, ähnliche Rhythmen des Wechsels von Arbeit und Nichtarbeit, das Entstehen der Freizeit.

Mehr noch als in den Demokratien ist dabei die Arbeit in den sozialistischen Demokratien als das Eintrittsbillet in die Gesellschaft verstanden worden, am Ende sogar unter Absehung von Produktivitätsfragen, so dass sich hier, in einer Formulierung von Dorothee Wierling, die Arbeitsgesellschaften zu Arbeitsplatzgesellschaften entwickelten.

Eine Folge der Universalisierung der Arbeit war die gesellschaftliche Standardisierung der Bezahlung und ihre Abbildbarkeit als Folge von Leistung und Ausbildung. Besonders präzise funktioniert dieser Mechanismus im Kernbereich der BAT-Gesellschaft: dem öffentlichen Dienst und der Bürokratie, die in ganz Europa im 20. Jahrhundert einen enormen Ausbau erfahren haben. Das war in den USA lange nicht in dem Ausmaß der Fall.

Für einen anderen Bereich springen die Unterschiede zu den USA noch deutlicher ins Auge; es handelt sich um die sozialstaatliche Daseinsvorsorge. In allen europäischen Gesellschaften galt für das 20. Jahrhundert die Annahme, dass die Sicherung gegen Lebensrisiken nicht allein privater Vorsorge anvertraut werden dürfe. Dahinter stand ein ebenfalls sehr europäisches Motiv, nämlich das Unbehagen an einer zu weit ausscherenden sozialen Ungleichheit. Das führte zu Standardisierungsprozessen, die ihrerseits die Lebensformen anglichen. Wer sozialstaatlich verwalten wollte, musste Armutsgrenzen bestimmen, Warenkörbe definieren, Wohnungsgrößen nach Zahl der Bewohner festlegen, um seine Klienten angemessen und gerecht zu versorgen.

Ebenso hat man in ganz Europa im 20. Jahrhundert erfolgreich versucht, die Bildungsgänge zu standardisieren. Lernstoffe wurden curricularisiert, die Rhythmen des Lernens näherten sich an und die Bildungspatente wurden einander ähnlicher. Die Standardisierung von Feldern wie Arbeit, Bildung und Bedürftigkeit hat in Europa dazu geführt, dass die Normalbiografien einander angeglichen wurden: Mit sechs Jahren zur Schule, dann die Ausbildung, mit 65 in die Rente - das ist nicht nur in Deutschland die Erfahrung der meisten. Einkommen wurden in Abhängigkeit von Ausbildung und Alter für große Gruppen festgelegt. Damit wurde Gesellschaft übersichtlich, man wusste schnell, wen man vor sich hatte. Solche Angleichungen sind in den USA sehr viel weniger ausgeprägt.

Die Homogenisierung der europäischen Gesellschaft war indes keineswegs nur ein inklusiver Prozess. Die einheitliche Gesellschaft schloss im gleichen Atemzug diejenigen aus, die anders waren. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Hochphase der ethnischen Homogenisierung der europäischen Gesellschaften in Ost und West; vom Passwesen über Vertreibungen bis hin zum Völkermord reichte die Palette der Instrumente, um Eindeutigkeit herzustellen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es noch lange, bis die westlichen Gesellschaften begriffen, dass Mitbürger auch einer sein konnte, der anders aussah.

Aber auch der Ostblock mit seiner langen multiethnischen Tradition war, aller Rhetorik der sozialistischen Staatengemeinschaft zum Trotz, von nationaler Abschottung geprägt. Die Vietnamesen und Kubaner, die als Arbeitskräfte oder zur Ausbildung in der DDR waren, können ein Lied davon singen. Das Ideal der ethnischen Homogenität einer Gesellschaft hatte sich auch im Osten tief in die kollektiven Mentalitäten eingefressen.

Diese Homogenität der europäischen Gesellschaften erreichte 1945 ihren gewalttätigen Höhepunkt. Danach löste sie sich langsam auf und machte einer neuen Diversität Platz. Diese wurde mit der Krise der 70er Jahre weithin beobachtbar, die die Menschen zu neuen Lebensorientierungen zwang. Nun wurde deutlich, dass man mit einem einzigen erlernten Beruf nicht mehr durchs Leben kommen würde. Lebensläufe wurden mit mehr Risiken behaftet, weniger vorzeichenbar. Prozesse der Individualisierung lösten die kollektiven Zugehörigkeiten langsam auf. Wohngemeinschaften, Singles und Patchwork-Familien wurden immer mehr zu möglichen Lebensformen.

Wir haben heute eine andere Vorstellung von Gesellschaft. Begriffe wie "Volk" haben für uns ausgedient, und die damit suggerierte Ähnlichkeit der Menschen zueinander verursacht uns eher Schauder. Die Großstadt, um 1930 der Inbegriff der Vermassung, ist für uns heute ein Ort erwünschter Individualität. Es haben sich also nicht allein die Strukturen verändert, sondern mehr noch unsere Vorstellungen von einem guten Leben.

Diese Prozesse der Pluralisierung spielten sich nicht nur in den westeuropäischen Konsumgesellschaften ab. Auch in Osteuropa waren seit den 60er Jahren immer mehr Zeichen dafür zu sehen. Die Mangelgesellschaft erzeugte Nischen für Anbieter von Material oder Dienstleistungen, die eine parallele Versorgungsstruktur etablierten, und damit neue Möglichkeiten der Lebensführung schufen. Der sozialistische Urlaub, der als Fortsetzung der Betriebsgemeinschaft gedacht war, wurde von den Menschen individualistisch interpretiert, als Urlaub vom Staat.

Dieser europäische Wertewandel erfasste jedoch keineswegs alle Menschen gleichzeitig. Es gab lange Phasen der Ungleichzeitigkeit, in denen über die wichtigen Werte und die wünschbare Gestaltung einer Gesellschaft erbittert gestritten wurde. Privat stritt der postmaterialistisch-hedonistische Enkel mit seinem nationalistischen Großvater darüber, ob man türkische Freunde haben dürfe. In den Metropolen lebten Inseln großstädtischer Yuppies nur wenige Meter von Einwandererslums entfernt.

Das Ideal einer Gesellschaft der Gleichen hatte Zwang und Gewalt als legitim erscheinen lassen. Die Pluralität ist indes keineswegs konfliktfrei - nur, dass die Politik sich nun mehr zurücknehmen muss. Die abnehmende Gestaltungsfähigkeit, die man seit den 70er Jahren der Politik in den meisten europäischen Gesellschaften - in West wie in Ost - attestiert hat, hat wohl nicht allein mit einer autochthonen Unfähigkeit des politischen Systems zu tun, sondern vielleicht noch mehr mit dem raschen Wandel der Gesellschaft und einer daraus resultierenden Überforderung der Politik. Diese hatte sich jahrzehntelang damit beschäftigt, die Bedingungen der Menschen einander anzugleichen. Der Wunsch nach Ähnlichkeit, der sich aus der Sehnsucht nach Harmonie speiste, hatte ungeheures Gewaltpotenzial. Eine Politik der Pluralität lässt sich damit nicht machen. Die Gesellschaft der Verschiedenheit muss mit dem Konflikt leben lernen - auf die Politik sollte sie dabei nur bedingt hoffen.

Der Autor ist seit 2008 Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dieser Artikel basiert auf seiner kürzlich gehaltenen Antrittsvorlesung.

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