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Gemeinsamer Erfolg. Alexander I. Karachunskiy (rechts), Günter Henze (mit Pokal) und das Moskauer „Protokoll“-Team wurden 2015 als „Beste Ärzte Russlands“ geehrt.

© Promo/Alexej Slinin

"Moskau-Berlin-Protokoll": Hilfe für leukämiekranke Kinder aus Russland

Leukämiekranken Kindern aus Russland und Belarus hilft seit 25 Jahren das „Moskau-Berlin-Protokoll“ - auch als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

Wenn man nichts tut, nimmt die Katastrophe ihren Lauf: Unreife, krankhaft veränderte Zellen aus dem Knochenmark breiten sich mit rasender Geschwindigkeit aus, stören das Heranreifen normaler Blutzellen, führen zu schwerer Krankheit und nach wenigen Monaten zum Tod. Noch in den 1960er Jahren war das auch in Deutschland das Schicksal von Kindern, die an Akuter Lymphoblastischer Leukämie (ALL) erkrankten, dem häufigsten Blutkrebs in diesem Alter. Inzwischen leben zehn Jahre nach der Diagnose neun von zehn erkrankten Kindern. Auch wenn die Chemotherapien belastend sind, die Krankheit das Leben der Betroffenen und ihrer Familien nachhaltig verändert: Dass die Kinder geheilt werden können, ist eine der ganz großen Erfolgsgeschichten der Kinderheilkunde.

Zu danken ist sie einem immer weiter optimierten einheitlichen Behandlungsplan, der nach den impulsgebenden Kinderkliniken Berlin, Frankfurt am Main und Münster das Kürzel BFM-Protokoll erhielt. Schon in den 80er Jahren konnten hierzulande so über 70 Prozent der Kinder gerettet werden.

Es war die Zeit nach Tschernobyl

Es war die Zeit, in der nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl viel über einen möglichen Zusammenhang zwischen Blutkrebs und dem nuklearen GAU diskutiert wurde. Ein unbestreitbares Ergebnis: Nach Tschernobyl wuchs die Aufmerksamkeit für Leukämien in der Sowjetunion. Und damit für einen verheerenden Missstand: Heranwachsende, die an Blutkrebs erkrankten, hatten kaum eine Überlebenschance. „Die Behandlungsergebnisse in der UdSSR waren damals fürchterlich“, sagt der Kinderkrebsspezialist Günter Henze, langjähriger Leiter der Kinderonkologie an der Berliner Charité.

Es fehlte an den erforderlichen Medikamenten und an einheitlichen Behandlungskonzepten. Oft lagen die Erkrankten monatelang in Kliniken und warteten auf eine Fortsetzung der Behandlung. „Jeder Arzt behandelte seine Patienten nach seinen eigenen Vorstellungen“, erinnert sich Henze.

Die Diskrepanz zwischen den Überlebenschancen der Kinder, die in ihrem Unglück das Glück hatten, in Berlin behandelt zu werden, und ihren Leidensgenossen in Minsk oder Moskau ließ nicht nur Henze, sondern auch seinen sowjetischen Kollegen keine Ruhe. Dass man das BFM-Protokoll nicht von heute auf morgen und eins zu eins in allen (weiß-)russischen Krankenhäusern anwenden konnte, war klar. Viele der immungeschwächten kleinen Patienten wären an Infektionen gestorben, die unter den gegebenen Umständen schwer zu verhindern und noch schwerer zu beherrschen waren.

Das Ziel: eine risikoarme Therapie von Kindern

Zusammen mit dem Moskauer Arzt Alexander Isaakowitsch Karachunskiy, der 1990 als erster russischer Gastwissenschaftler in der Charité-Kinderonkologie tätig war, entwickelte Henze deshalb 1991 das „Moskau-Berlin-Protokoll“: Ziel war es, eine möglichst risikoarme medikamentöse Therapie von Kindern mit ALL zu entwickeln. Brauchbar auch für Kliniken, die nicht über modernste Laboratorien, gute Blutbanken und Mittel zur Verhütung von Nebenwirkungen verfügten, und als Dauertherapie später ambulant am Heimatort fortzusetzen. „Wir haben nach einer kostengünstigen, praktikablen Therapie gesucht, die man guten Gewissens vertreten kann“, sagt Henze.

Wie es gutem wissenschaftlichem Brauch entspricht, wurde das vereinfachte Protokoll in einer Studie mit einer leicht veränderten Version des gängigen deutschen Protokolls verglichen. Die Ergebnisse waren praktisch deckungsgleich. Noch dazu konnte der Charité-Kinderonkologe Arend von Stackelberg zu Beginn der 90er Jahre in seiner Doktorarbeit nachweisen, dass es unter dem an die Umstände angepassten Protokoll weniger Probleme mit Nebenwirkungen gab und dass die Kinder schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden konnten. Mehr und mehr Kliniken fassten Vertrauen und schlossen sich diesem Therapieplan an, der in Folgestudien noch verfeinert wurde. So kommt es, dass jetzt, kurz nach dem traurigen Gedenken an 30 Jahre Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, ein freudiger Anlass gefeiert werden kann: 25 Jahre „Moskau-Berlin-Protokoll“.

Inzwischen fast so gute Überlebenschancen wie im Westen

Inzwischen haben die an ALL erkrankten Kinder in Russland und Weißrussland mit 80 bis 90 Prozent fast so gute Überlebenschancen wie in westeuropäischen Ländern. „Über 7000 Kinder wurden im Rahmen des Protokolls behandelt, 6303 haben überlebt“, berichtet Eberhard Radczuweit vom kleinen Verein Kontakte-Kontakty e. V., der sich den Beziehungen zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion widmet und das Projekt von Anfang an förderte. Eine Erfolgs-Story: Ärzte und Kliniken in Armenien, Usbekistan und zuletzt Kirgistan haben sich dem kinderonkologischen Großprojekt angeschlossen. Und in ersten Studien werden die Behandlungskonzepte in modifizierter Form auch für Erwachsene eingesetzt.

Die wichtigste Veränderung seit Beginn der 90er Jahre? Henze sieht sie darin, dass der Behandlungsplan heute noch genauer auf das Risiko des jeweiligen Kindes abgestimmt wird. Darüber geben vor allem genetische Veränderungen der Krebszellen Auskunft. Bei niedrigerem Risiko werde inzwischen auch beim „Berlin-Frankfurt-Münster-Protokoll“ über ein Abspecken der Therapie nachgedacht.

Auf einer Tagung der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie werden Karachunskiy und Henze am 21. Mai in Berlin aktuelle Ergebnisse des Moskau-Berlin-Protokolls vorstellen. Gefeiert wird die konzertierte Aktion schon am Vorabend, passenderweise mit einem Jubiläumskonzert. Günter Henze wirkt bei den Streichern mit.

Nähere Informationen zum Kinder-Leukämie-Projekt und den Unterstützungsmöglichkeiten unter www.kontakte-kontakty.de

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