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Indios

© dpa

Indigene Völker: "Sie isolieren sich bewusst“

Der Soziologe Dieter Gawora erklärt, warum die Mitglieder bestimmter indigener Gruppen keinen Kontakt zur Zivilisation wollen.

Man sieht langgezogene Hütten mit Grasdächern, davor Krieger mit Pfeil und Bogen: Die vor einer Woche von der nationalen Indianerstiftung Brasiliens, Funai, veröffentlichten Bilder zeigen eine indigene Gruppe, die „ohne jeglichen Kontakt zur Zivilisation lebt“. Ist das glaubhaft?

„Nicht kontaktiert“ heißt, dass die brasilianische Nationalgesellschaft bislang keinen Kontakt zu ihnen hatte. Andererseits wissen diese indigenen Gruppen immer, dass es die anderen gibt. Das sind keine zurückgebliebenen Stämme, sie isolieren sich vollkommen bewusst.

Warum?

Sie wissen, welche Bedrohung auf sie zukommt. Die gesundheitlichen Gefahren sind dieselben wie vor 500 Jahren: Eine Maserninfektion kann einen ganzen Stamm auslöschen. Die Geschichte der Gewalt und der Versklavung ist auch den isolierten Stämmen bewusst. Es sind ja keine Völker ohne Geschichte: Ebenso wie ihre Mythen von der Entstehung der Erde wird auch die Geschichte der Eroberung von Generation zu Generation tradiert. Und sie beobachten – wenn auch aus der Ferne – wie andere Völker leben, die sich auf Kontakte eingelassen haben. Alkoholismus ist eines der Probleme.

Wie viele ursprünglich lebende Indianer gibt es im brasilianischen Amazonien?

Es gab vor der portugiesischen Eroberung im Jahr 1500 geschätzte fünf Millionen Ureinwohner in Brasilien, bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war mit etwa 200000 der demografische Tiefstand erreicht. Heute leben in den geschützten Indianergebieten rund 350 000 Menschen. Ethnologen gehen von 46 nicht kontaktierten Völkern aus. Zwölf bis 13 dieser Völker sind absolut sicher nachgewiesen, für die Existenz der übrigen gibt es eindeutige Indizien wie verlassene Felder und Häuser, Funde von Pfeilen und anderen Objekten.

Es heißt, die Indianer seien vom illegalen Holzeinschlag in Peru bedroht und deshalb nach Brasilien geflüchtet. Kann es eine Bedrohung ohne direkten Kontakt geben?

Wenn in dem Gebiet, in dem sie leben, Öl gesucht wird, wenn Holzfäller kommen, dann verschwindet das Wild, die Arbeiter lassen Müll zurück. Indianer und Okkupanten sehen sich nicht von Angesicht zu Angesicht, aber die Völker holen sich etwa Metallteile, die sie weiterverwenden. Wenn sie den Kontakt von sich aus suchen, meist über andere Indianervölker, muss dieser Prozess sehr behutsam begleitet werden. Die Funai vertritt die Auffassung, dass es auch für diese Staatsbürger eine Fürsorgepflicht gibt. Am besten wird man dem gerecht, indem man ihre Gebiete vor Eindringlingen schützt. Gibt es aber eine akute Bedrohung etwa durch Holzfäller, ist es vorzuziehen, dass geschulte Anthropologen auf die Völker zugehen, um einer möglicherweise tödlich verlaufenden Kontaktaufnahme durch diese Eindringlinge zuvorzukommen.

Was lesen Sie aus den Bildern?

Die Männer sehen vergleichsweise gesund und stabil aus, nicht unterernährt. Sie haben sich als Krieger gezeigt, die sich gegen die Kontaktaufnahme wehren. Frauen und Kinder haben sich wahrscheinlich im Wald versteckt. Die rote Farbe, mit der sich die Männer angemalt haben, stammt aus den Samen der Urucu-Frucht, die schwarze Farbe wird aus der Genipapo-Frucht gewonnen. Das ist ein Körperschmuck, der bei den Indigenen weit verbreitet ist, er schützt gleichzeitig gegen Mücken. Offensichtlich ist auch, dass sie verletzlich sind. Die Bilder sagen: Die müssen geschützt werden.

Kann die Bedrohung durch die Bilder der Indios eingedämmt werden, wie Aktivisten von Survival International hoffen?

Ganz sicher wird die Weltöffentlichkeit dafür sensibilisiert, dass es tatsächlich noch nicht kontaktierte Indianer gibt. Die holzverarbeitende Industrie, Öl- und Bergbauunternehmen aber interessieren sich kaum für die internationale Medienöffentlichkeit. Trotzdem kann man diese Völker schützen. Eine Million Quadratkilometer Regenwald – 20 Prozent des brasilianischen Amazonien – sind Indianergebiete. Durch die nachhaltige Form der indigenen Bewirtschaftung bieten sie gleichzeitig einen Schutz des Regenwaldes.

Kinder und Erwachsene leiden unter Parasiten und Infektionskrankheiten. Darf man ihnen die moderne Medizin vorenthalten?

Die Indigenen haben durchaus eine eigene wirksame medizinische Versorgung durch Medizinmänner, die mit Heilkräutern und schamanistischen Geistheilungsmethoden arbeiten. Die wenigen Indianergruppen, die sich bewusst dafür entschieden haben, isoliert zu bleiben, übernehmen auch dafür die Verantwortung. Insgesamt klagen die Indianer Amazoniens aber sehr deutlich ein, dass die nationale Gesundheitsbehörde ihrem Auftrag auch in entlegenen Gebieten nachkommt.

Wird jetzt ein Run von Ethnologen und Ethno-Touristen einsetzen, diese letzten „Urmenschen“ zu entdecken?

Obwohl man sie ziemlich genau im Grenzland zwischen Peru und Brasilien lokalisieren kann, wird es doch schwer, sie tatsächlich zu finden. Ethnologen werden in aller Regel sehr zurückhaltend agieren. Etwas anderes sind protestantische Missionare, die solche Stämme suchen und finden, was immer zu folgenschweren kulturellen Verwerfungen führt. Ökotourismus gibt es in Naturschutzgebieten, die zum Teil Indianergebiete überlagern. Zufällige Kontakte von Touristen zu isolierten Gruppen sind gefährlich. Ich plädiere sehr stark dafür, sie ihr eigenes Tempo bestimmen zu lassen. Die Problematik muss vor allem von der indigenen Seite aus betrachtet werden.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Dieter Gawora, (51), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Soziologie der Entwicklungsländer an der Universität Kassel und Experte für traditionelle Bevölkerung Amazoniens.

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