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Tödliches Mitbringsel. Cholera-Bakterien wie diese verursachten 2010 in Haiti einen großen Ausbruch mit Tausenden Toten. Durch einen Vergleich des Erbguts verschiedener Stämme konnten Forscher zeigen, dass die Erreger offenbar von nepalesischen UN-Soldaten auf die Insel gebracht wurden. Foto: SPL

© Berger / SPL / Ag.Focus

Infektionskrankheiten: Spur der Keime

Ehec, Grippe, Cholera: Das Erbgut von Krankheitserregern ist eine Fährte, der Forscher folgen können. In Zukunft wollen sie damit sogar Ausbrüche vorhersagen.

Zuerst waren es nur ein paar Patienten. Sie klagten über Bauchschmerzen, mussten sich immer wieder übergeben und litten an blutigem Durchfall. Doch immer mehr Menschen kamen vor einem Jahr ins Klinikum Hamburg-Eppendorf. Irgendwann waren die Plätze für künstliche Beatmung alle belegt, die Intensivstation voll. Im Krankenhaus herrschte Ausnahmezustand. Die Ärzte arbeiteten bis an den Rand der Erschöpfung – und konnten doch häufig nur zuschauen, wie der Zustand der Patienten sich weiter verschlechterte.

Bald war klar, dass es sich um Infektionen mit dem Darmbakterium Ehec (enterohämorrhagischer Escherichia coli) handelte. Holger Rohde, Mikrobiologe am Krankenhaus, wollte es gerne genauer wissen. „Wir haben etwas DNS des Erregers isoliert und per Kurier nach Shenzhen geschickt“, erinnert sich Rohde. Dort, im Süden Chinas, steht das Beijing Genomics Institute. In der riesigen Sequenzierfabrik spucken Hunderte der neuesten Sequenziermaschinen täglich Billionen Buchstaben des Erbguts von Menschen, Tieren und Pflanzen aus. Rohde wusste: Wenige Institute wären in der Lage, das Erregergenom schneller zu sequenzieren.

Die Genomfracht kam in China an einem Freitag an, und noch am Wochenende begann die Arbeit. Nur wenige Tage später meldeten die Chinesen: Das Erbgut ist entziffert – und machten es online für alle Welt verfügbar. Fast zeitgleich meldete ein Team um Dag Harmsen vom Uniklinikum Münster dasselbe.

Tatsächlich handelte es sich bei den beiden Genomen um Tausende Bruchstücke DNS, die entziffert worden waren. Innerhalb von Stunden begann eine Armada von Forschern, die Daten zusammenzufügen, die Sequenz mit denen anderer Erreger zu vergleichen und das Ganze über Twitter und Blogs zu verbreiten. Was sie fanden war beunruhigend.

Offenbar handelte es sich um ein Bakterium, das die gefährlichen Eigenschaften zweier Erreger miteinander verband, die Fähigkeit klassischer Ehec-Bakterien, den Menschen krank zu machen, und die Fähigkeit von EAEC (enteroaggregative E. coli), sich im Darm festzusetzen.

Das Wissen konnte die Tragödie nicht aufhalten. 55 Menschen starben, Tausende erkrankten schwer. Es war der tödlichste Ehec-Ausbruch, den die Welt je gesehen hatte und eine furchtbare Erinnerung, mit welcher Wucht winzige Organismen unser Leben aus der Bahn werfen können.

Der Ausbruch zeigte aber auch, wie weit die Mikrobiologie gekommen war. 1995 wurde das erste Erbgut eines Bakteriums entziffert. 13 Monate benötigten die Forscher, um die 1,8 Millionen Basenpaare (Buchstaben) von Haemophilus influenzae zu lesen. Bei Ehec dauerte es nur wenige Tage. Umso enttäuschender war es für manche Forscher, dass ihre Leistung letztlich keine Menschenleben retten konnte. „Aber bei anderen Ausbrüchen werden solche Daten in Zukunft helfen“, prophezeite Harmsen damals.

Nur wenige Wochen später bot sich dem Münsteraner Forscher die Gelegenheit, das zu beweisen: In einem Krankenhaus in Rotterdam war ein Stamm des Bakteriums Klebsiella pneumoniae aufgetaucht, der gegen fast alle Antibiotika resistent war. Mehrere Menschen waren gestorben, und es bestand die Gefahr, dass sich Hunderte Ärzte, Besucher und Patienten anstecken könnten.

Von niederländischen Ärzten erhielt Harmsen zwei Proben. Wenige Tage später war die Gensequenz des Erregers entschlüsselt. Am Computer verglich Harmsen sie mit der von 300 anderen Klebsiella-Bakterien, die bereits sequenziert worden waren. So konnte er eine Region ausfindig machen, die nur der Ausbruchsstamm trug, eine Buchstabenkombination, die ihn so eindeutig identifizierte wie ein Fingerabdruck einen Menschen.

Mit dem Mikrobenmarker entwickelten die Wissenschaftler einen Schnelltest, der an alle Krankenhäuser verteilt wurde. So konnten Patienten mit dem neuen Erreger identifiziert und unter Quarantäne gestellt werden „Soweit ich weiß, war das das erste Mal, dass diese Technik fast in Echtzeit genutzt wurde und einen direkten medizinischen Nutzen hatte“, sagt Frank Aarestrup vom Zentrum für genomische Epidemiologie an der Technischen Universität in Kopenhagen.

Die dänischen Forscher wollen, dass die Sequenzierung Standard wird. Denn die Genome von Krankheitserregern sind eine immense Wissensquelle. Im Erbgut ist der Bauplan der Bakterien niedergelegt: ihre Angriffswaffen, ihre Verteidigungsstrategien, ihre Schwachpunkte. Sie sind die Quelle für die Macht der Mikroben.

Und sie legen eine Spur, der Forscher folgen können. Schon 2010 zeigte das Simon Harris, ein Wissenschaftler am Wellcome Trust Sanger Institut in Hinxton, England. Mit Kollegen aus Thailand, Portugal und den USA untersuchte er die Verbreitung einer besonders hartnäckigen Variante des Bakteriums Staphylococcus aureus. Der Stamm ist gegen fast alle Antibiotika resistent und deswegen den meisten Krankenhäusern ein Graus.

Harris untersuchte 20 Proben des Bakteriums, die innerhalb von sieben Monaten in einem Krankenhaus in Thailand isoliert wurden. Er sequenzierte jeweils das gesamte Erbgut und verglich die Buchstabenfolgen dann miteinander. So konnte er zeigen, dass keine zwei Infektionen von genetisch identischen Erregern verursacht wurden, und anhand der Unterschiede den Weg der Infektion verfolgen. Proben, die besonders ähnlich waren, stammten von Patienten, die zur selben Zeit in benachbarten Zimmern erkrankt waren. Zeitlich und räumlich weiter entfernte Proben hatten auch mehr Unterschiede im Genom.

Auch auf einer Skala von Jahren konnte Harris die Fährte des Keims verfolgen. Er verglich 42 Proben, die zwischen 1982 und 2003 auf verschiedenen Kontinenten isoliert wurden. Das Ergebnis: Die resistenten Bakterien entstanden vermutlich in den 60er Jahren in Europa, als Antibiotika erstmals großflächig eingesetzt wurden, und verbreiteten sich dann über die Welt.

Und 2011 nutzten die Forscher um Frank Aarestrup die Methode, um den Ursprung eines Ausbruchs in Haiti aufzuklären. Nachdem ein verheerendes Erdbeben 2010 große Teile des Landes verwüstet hatte, brach die Cholera aus. Mehr als 6000 Menschen starben. Epidemiologen hatten bereits vermutet, dass die Krankheit von UN-Soldaten aus Nepal eingeschleppt wurde. Die dänischen Forscher taten sich mit Paul Keim von der Universität von Arizona zusammen und sequenzierten Cholerabakterien von 24 nepalesischen Patienten. Der Vergleich mit dem Erbgut von drei Isolaten aus Haiti und sieben anderen Cholerastämmen bestätigte die Theorie.

Der Vergleich des Erbguts von Bakterien gibt modernen Mikrobenjägern ganz neue Möglichkeiten. „Wir können damit beobachten, wie sich ein Erreger ausbreitet: von Person zu Person, Krankenhaus zu Krankenhaus, Land zu Land“, sagt Stephen Bentley, der an der britischen Staphylococcus-Studie beteiligt war.

Genau das wollen Forscher nun erreichen. Ihre Vision: eine Art Infektions-Wetterkarte, die abbildet, welcher Erreger wo vorkommt, wo sich eine gefährliche Resistenz ausbreitet oder ein besonders bösartiges Bakterium entsteht. Wie der Wetterbericht vor einem Gewitter warnt, soll diese Karte vor Epidemien warnen, ehe sie ausbrechen.

Das klingt nach einer fernen Zukunft, doch für Influenzaviren ist etwas ganz Ähnliches längst Realität. Jedes Jahr werden in Hunderten Labors an verschiedenen Orten Influenzaviren sequenziert. So entscheidet die Weltgesundheitsorganisation WHO, welche Stämme des Erregers gerade zirkulieren und stimmt dann den Impfstoff des Jahres darauf ab. Mehr als 40 000 Stämme der Grippe sind inzwischen sequenziert worden.

Das Erbgut der meisten Bakterien ist allerdings hundert mal größer als das eines Grippevirus. Und damit die Idee der Echtzeit-Infektions-Überwachung Realität wird, müssten unzählige Genome sequenziert werden. „Jedes Mal, wenn ein Arzt eine Probe nimmt und Bakterien findet, sollten sie sequenziert werden“, sagt Aarestrup. Das könnten bis zu eine Milliarde Genome im Jahr sein.

Mit dieser Unmenge an Daten umzugehen, ist eine der größten Herausforderungen. Das Team um Aarestrup hat sechs Millionen Euro von der dänischen Regierung bekommen, um Probleme wie dieses anzugehen. In einem Pilotprojekt sollen sie eine Datenbank im kleinen Maßstab aufbauen. Inspiration für die Technik holen sie sich von Online–Spielen wie „World of Warcraft“, bei denen Tausende Gamer in einer aufwendigen virtuellen Welt interagieren. Schließlich müssen die Server ständig riesige Mengen an Daten für zahlreiche einzelne Rechner bereitstellen.

Das andere Problem ist, dass sich alle Beteiligten darauf einigen müssen, welche Form die Daten haben sollen. „Wir müssen alle dieselbe Sprache sprechen“, sagt Jorgen Schlundt, ehemaliger Chef der Abteilung für Lebensmittelsicherheit der WHO. „Eine Art molekulares Esperanto“, nennt es Harmsen. Schlundt, Harmsen und 23 andere Wissenschaftler trafen sich im vergangenen Herbst in Brüssel, um über das Problem zu diskutieren. Vor wenigen Wochen fand ein zweites, größeres Treffen in Washington statt. „Sie können sich das so vorstellen wie die Unterhaltungsindustrie, die zusammenkommt, um sich auf Blu-ray als den Standard für HD-Video zu einigen“, sagt Paul Keim. Die Anforderungen sind hoch, denn die Daten müssen weltweit vergleichbar sein. Ein Konsens ist aber noch nicht in Sicht.

Selbst wenn er bald gefunden werden sollte, blieben noch Herausforderungen. Denn die Forscher müssen Ärzte auf der ganzen Welt überzeugen, mitzumachen. „Solche Infektions-Wetterkarten werden kommen, das ist keine Frage“, sagt Harmsen. Wie gut sie seien, hänge aber letztlich davon ab, wie viele Sequenzen wirklich in das System eingespeist werden. Dafür sind die Ärzte entscheidend. Denn ohne Ärzte keine Proben und ohne Proben keine Gensequenzen. Aarestrup und andere wollen daher ein System einrichten, das Ärzten auch einen Mehrwert verspricht: Lädt ein Doktor eine Gensequenz hoch, so soll er im Gegenzug einen Bericht erhalten, der das Bakterium beschreibt: Wie gefährlich der Erreger ist, gegen welche Antibiotika er resistent ist, wo der Stamm sonst schon aufgetaucht ist. „Bioinformatik für Dummies“, sagt Harmsen.

Forscher wollen allerdings mehr als nur das Erbgut des Bakteriums. Um den größten Nutzen aus so einer Datenbank zu ziehen, sind Metadaten besonders wichtig: Wie alt ist der Patient? Was sind die Symptome? Wo war er auf Reisen? Was hat er gegessen? Skandinavische Länder, die im Umgang mit solchen Daten weniger Probleme haben als andere Länder, könnten auch deshalb die Führung übernehmen.

Die dänischen Forscher hoffen auch bürokratische Grenzen zwischen Tiermedizin, Lebensmittelsicherheit und menschlicher Gesundheit überwinden zu können. Zurzeit sind meist unterschiedliche Institute und Behörden für diese Bereiche zuständig. Eine Datenbank für alle Bakteriengenome könnte diese Einteilung aufheben. „Ein Bakterium ist ein Bakterium, ob man es in Lebensmitteln, Tieren oder einem Menschen findet“, sagt Aarestrup.

Eric Schadt, Genetiker an der Mount Sinai School of Medicine in New York, hat im Kleinen schon einmal mit der Erregerkartierung begonnen. In seinem Haus und den Büros des Sequenziermaschinenherstellers Pacific Bioscience, für den er arbeitet, nahm der Forscher zahlreiche Proben. Auf dem Kühlschrankgriff fand er viele Bakterien, die auf Geflügel oder Schweinefleisch leben. Und auf Tischen und Computern im Büro konnte er verfolgen, wie sich die Zusammensetzung der Bakterien und Viren mit der Jahreszeit ändert. Diese Form der Mikrobenüberwachung werde irgendwann gang und gäbe sein, glaubt er.

„Als Erstes wird das sicher in Krankenhäusern eingesetzt werden“, sagt Schadt. In den nächsten fünf Jahren werde vermutlich gezeigt werden, dass man Patienten so besser vor Krankenhausinfektionen schützen und Geld sparen könne. „Wenn das erfolgreich ist, dann wird es sich auf Schulen, Restaurants, Bauernhöfe ausweiten“, sagt der Genetiker. „In einer Sprossenfarm könnten sie aus jeder Packung eine winzige Probe sequenzieren.“

Sollte das eines Tages der Fall sein, wäre auch ein Ausbruch wie der von Ehec im vergangenen Jahr zu verhindern. Die Bakterien hätten ihr Innerstes preisgegeben, die Mikroben hätten an Macht verloren.

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