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Der Historiker Thomas Etzemüller.

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Interview: "Das Denken ist noch ansteckend"

Thilo Sarrazin beschwört den demographischen Kollaps der deutschen Bevölkerung. Doch apokalyptische Bevölkerungsprognosen sind in der Vergangenheit stets fehlgeschlagen. Der Historiker Thomas Etzemüller über ein ewig währendes Thema.

"Deutschland schafft sich ab" behauptet Thilo Sarrazin in seinem neuen Buch, in dem er einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Fortpflanzungsrate herstellt. Kommt Ihnen diese Art der Prognose bekannt vor?

Der Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität der Menschen wird etwa seit Anfang des 20. Jahrhunderts postuliert. Bis in die 1960er Jahre ging es dabei vor allem um die genetische Qualität, die Intelligenzfrage hat die eugenische Frage abgelöst und wird besonders seit der Jahrtausendwende immer wieder aufgeworfen.

Sarrazin behauptet im Grunde: "Wir" werden auf natürliche Weise immer dümmer, weil die kognitiv minderbemittelten Muslime in unserem Land die meisten Kinder zeugen und wir die Zuwanderung nicht nach Intelligenz steuern. Er argumentiert auch mit der Genetik. Gibt es historische Vorbilder für diese Art von Sorge vor Überfremdung?

Ja, und zwar waren das sogenannte "minderwertige" Völker, die Deutschland zu "überfremden" drohten, besonders die Slawen. Die Vorstellung war die, dass Deutschland durch sinkende Geburtenraten "Rassenselbstmord" beging, während die Slawen durch hohe Geburtenraten Druck auf den deutschen Raum aufbauten. Auch diese Angst ist keine Erfindung der Nationalsozialisten, die gibt es ebenfalls seit Beginn des 20. Jahrhunderts; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie auf Menschen der "Dritten Welt" übertragen, die man geradezu als "Biomasse" die westliche Welt überfluten sieht.

Die demographische Frage war bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ganz eng mit der eugenischen Frage verbunden, also mit dem Problem, dass genetisch "minderwertige" Menschen - also Unterschichten bzw. Slawen usw. - zu viele, die "wertvollen" Mittelschichten dagegen zu wenige Kinder bekommen. Das wagt man heute nicht mehr ganz so deutlich auszudrücken, aber das Denken ist noch ansteckend.

2007 haben Sie das Buch "Ein ewigwährender Untergang" veröffentlicht. Was sind die Grundthesen dieses Buches?

Kurz gesagt: Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich eine stabile Struktur herausgebildet, wenn über Bevölkerung gesprochen wird. Es wird ein demographisches Krisenszenario entworfen - dramatischer Geburtenrückgang und Überalterung - und gleichzeitig die Bevölkerung qualitativ klassifiziert in diejenigen, die Kinder bekommen sollten, und diejenigen, bei denen das möglichst zu verhindern ist. Dieses Denken hat einschneidende politische Zäsuren wie das "Dritte Reich" überdauert und ist nicht auf Deutschland beschränkt.

Ich habe zu zeigen versucht, wie Wissenschaftler, Politiker und Publizisten demographische Entwicklungen oft ganz automatisch nur in dieser apokalyptischen Form beschreiben, statt in alternativen Modellen.

Wie hat sich die Bevölkerungsdebatte seitdem entwickelt?

Seit etwa der Jahrtausendwende ändert sich der Ton. Der apokalyptische Duktus verliert an Attraktivität, und es wird gefragt, ob die demographische Entwicklung tatsächlich notwendig in die Katastrophe führen muss.

Man sollte das allerdings nicht Debatte nennen, denn das hieße, dass die Publizisten wissen, was sie da schreiben und sprechen. Tatsächlich aber läuft enorm viel unbewusst, da sich bestimmte Denkstrukturen verfestigt haben, die die Akteure sprechen lassen. Sie sprechen nicht selbst, sondern vollziehen eine Gesprächsstruktur, die die westeuropäischen Gesellschaften seit 200 Jahren prägt.

Werden mit Hilfe der "demographischen Katastrophe" Ängste geschürt?

Es ging und geht immer um die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg. Der gesamte demographische Diskurs ist ein bürgerliches Phänomen. Mit der wachsenden politischen Bedeutung der Unterschichten und der zunehmenden Globalisierung sah sich um 1900 eine Schicht unter die Räder kommen, die erst seit wenigen Jahrzehnten das politische Leben prägte.

Heute kommt die Angst vor Hartz IV und Globalisierung hinzu - die Welt verändert sich immer rasanter. Eigentlich attraktive, nämlich bürgerliche Lebensmuster werden immer unsicherer, da werden Erklärungen gesucht. Und da die demographische Frage seit langem so etabliert und die Matrix des Sprechens so stabil ist, bietet sich dieses Thema zur Erklärung so gut an: Es ist prägnant, macht Angst, läßt sich auf immer neue Bevölkerungsgruppen anwenden und überzeugt über alle politischen Lagergrenzen hinweg - jedenfalls die, die sich überzeugen lassen wollen. Denn Kritik an diesem Denken gibt es ebenfalls seit 100 Jahren. Sie hat sich nur nicht öffentlichkeitswirksam durchsetzen können.

Gibt es vergleichbare (historische) Diskurse in anderen Ländern?

Ja, ich habe Schweden und Deutschland verglichen, aber englische oder amerikanische Texte stehen sich da in nichts nach. Es ist verblüffend, wie ähnlich die Argumentationsstruktur raum- und zeitübergreifend ausfällt, inklusive der rassistischen Elemente. Die Schweden etwa fürchteten eine "Finnlandisierung" des Nordens, und auch ausgewiesen Demokraten befürworteten extensive Sterilisierungsprogramme.

- Thomas Etzemüller ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 2007 erschien sein Buch: Ein ewig währender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Transcript, Bielefeld.

Interview: Carsten Kloth

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