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Interview: „Wir dürfen uns nicht zurücklehnen“

Bildungsforscher Wilfried Bos erklärt die Lesestärke der Viertklässler – und sagt, was an den Schulen noch besser werden muss

Herr Bos, deutsche Grundschüler haben sich beim Lesen gegenüber der Iglu-Studie von 2001 noch einmal gesteigert. Warum?

Ich vermute, dass es sich um eine Steigerung über die letzten fünfzehn Jahre hinweg handelt. Wir haben bereits Anfang der neunziger Jahre an einem Lesetest teilgenommen. Da lagen wir im Mittelfeld. 2001 lagen wir im oberen Leistungsdrittel, jetzt im oberen Viertel. Die Steigerung ist ein Resultat des kontinuierlichen Reformprozesses in der Grundschule, die die modernste Schulform in Deutschland ist. Auf der anderen Seite ist die jetzt getestete Schülerpopulation die Population, die schon mit dem Pisa-Schock durch die Schule gelaufen ist. Eltern wie auch Lehrer haben sich wahrscheinlich besondere Mühe gegeben.

Andererseits kritisieren die Forscher, dass der Unterricht doch überwiegend traditionell sei. Die Lehrer förderten das eigenständige Lesen und den kreativen Umgang mit Texten zu wenig und differenzierten zu wenig. Wie passt das zu Ihren Ergebnissen?

Es passiert sicher immer noch zu wenig, aber es passiert doch in der deutschen Grundschule immerhin schon etwas. Diese Form der Binnendifferenzierung findet man in anderen Schulformen dagegen fast überhaupt nicht.

Welchen Anteil an der positiven Entwicklung haben die Eltern?

Die leseförderliche Atmosphäre in den Elternhäusern ist ein Stück besser geworden. Allerdings liegen wir dabei nur in einem mittleren Bereich. Ein Teil der Elternhäuser legt immer noch nicht den großen Wert auf das Lesen, wie es wünschenswert wäre. Das ist eine Aufgabe, die die Grundschulen noch übernehmen müssten: Die Eltern darauf hinzuweisen, dass man Kindern etwas zu lesen geben sollte – und ihnen sagen, dass man mit Kindern über das Gelesene sprechen sollte.

Beim Lesen schneiden die Jugendlichen in der Oberschule laut Pisa deutlich schlechter ab als die Grundschüler. Jetzt zeigt ein erstes Ergebnis aus der neuen Pisa-Studie, dass die deutschen Oberschüler in den Naturwissenschaften besser geworden sind. Glauben Sie, dass die Oberschüler sich auch im Lesen verbessert haben?

Ich kann das nicht beurteilen. Ich kenne auch das Pisa-Ergebnis nicht. Wenn sich die Schüler tatsächlich in den Naturwissenschaften verbessert haben, sollte uns das alle freuen.

Der Übergang zum Gymnasium ist gegenüber Iglu 2001 noch selektiver geworden. Kinder aus der Unterschicht müssen eine noch größere Lesekompetenz aufweisen, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, während Kinder aus der Oberschicht mit schwächeren Leistungen ans Gymnasium kommen. Warum ist das so?

Der gesellschaftliche Druck wird insgesamt größer. Eltern legen immer mehr Wert darauf, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, weil man mit einem Studium die besseren Chancen in unserer Gesellschaft hat. Wer aus der Oberschicht irgendwie kann, schickt sein Kind aufs Gymnasium – was Kinder aus der Unterschicht noch stärker benachteiligt.

Haben die Grundschullehrerinnen angesichts des gewachsenen Leistungsdrucks an der Oberschule auch zu wenig Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Arbeiterkinder?

Grundschullehrerinnen und -lehrer machen sich sehr viele Gedanken, wenn sie Schullaufbahnempfehlungen aussprechen. Wenn da ein Kind einer Hilfsarbeiterin mit Migrationshintergrund ziemlich gut ist, dann denken die Lehrerinnen natürlich auch: Wenn das Kind nach Hause kommt, ist da keiner, der die Deutsch-Hausaufgaben kontrollieren könnte. Dann kommt auf dem Gymnasium die erste und zweite Fremdsprache dazu. Da fragen sich die Lehrer schon, ob das Kind besser auf einer sehr guten Hauptschule aufgehoben ist. Ich denke, dass man institutionell noch einiges abfedern muss. Wir bräuchten Gymnasien, die auch im Ganztagsbetrieb laufen. Dort müsste man das Schulprogramm entsprechend abändert, um nachmittags diesen Kindern das anregungsreiche Milieu zukommen zu lassen, das sie zu Hause nicht vorfinden.

Das Gymnasium ist seinem traditionellen Selbstverständnis nach allerdings eine Einrichtung, die sich nicht der zusätzlichen Förderung von Schülern verschreibt, die vielleicht ein hohes Potenzial haben, aber noch etwas Hilfe brauchen. Ist zu erwarten, dass die Mentalität sich ändert?

Ich habe keine Gymnasiallehrer befragt, und ich habe mir auch keinen Gymnasialunterricht angeguckt. Insofern ist das schwierig zu beantworten. Ich denke aber, es würde den anderen Schulformen nicht schaden, sich gelegentlich an der Grundschule zu orientieren, was den Unterricht angeht.

In Deutschland gibt es nur eine kleine Gruppe von Spitzenlesern. Sind die Gymnasien darauf eingestellt?

Ich vermute, dass Gymnasien Schwierigkeiten haben, mit der heterogenen Schülerschaft, die sie bekommen, so umzugehen, wie es vielleicht notwendig wäre.

Ist die Gefahr in einem dreigliedrigen System nicht besonders groß, Schüler nicht entsprechend ihrer Stärken und Schwächen zu fördern?

Das dreigliedrige System ist eine politische Angelegenheit, da habe ich wissenschaftlich nicht allzu viel dazu zu sagen.

Halten Sie das Gymnasium als Pädagoge tatsächlich für unentbehrlich?

Ich bin da realistisch. Die Mehrheit der Bevölkerung will die Schulform Gymnasium haben, und das Gymnasium ist auch eine erfolgreiche Schulform.

Die Migrantenkinder schneiden auch etwas besser ab als beim ersten Iglu-Test. Hätte die deutsche Schule in fünf Jahren noch mehr erreichen können?

Vermutlich hätte sie noch mehr erreichen können. Wir sollten zufrieden sein, dass es einen ordentlichen Fortschritt gibt.

Auch bei den Migrantenkindern hängen Lesekompetenzen maßgeblich vom sozialen Hintergrund ab. Trotzdem bleibt zu der deutschen Vergleichsgruppe immer noch ein deutlicher Abstand, wenn dieser Faktor statistisch berücksichtigt wird. Warum?

Wir haben tatsächlich eher ein Schichtenproblem als ein Migrationsproblem. Gleichwohl haben Kinder, die zu Hause nicht deutsch sprechen und unter Umständen nicht in Deutschland geboren wurden, eine schlechtere Ausgangsposition. Das muss entsprechend gefördert werden. Es sollte von gut ausgebildeten Lehrern ein Deutschförderunterricht erteilt werden – nach Möglichkeit von Lehrern, die eine Zusatzausbildung in Deutsch als Fremdsprache haben.

In Deutschland sind Jungen und Mädchen im Lesen fast gleich gut. Trotzdem gibt es doppelt so viele Jungen, die nie aus Spaß lesen. Wie ist das zu erklären?

Ich vermute, dass in den Elternhäusern nicht so ein Wert drauf gelegt wird, dass Jungen lesen. Wenn sie sich mit zehnjährigen Jungs unterhalten, ist Lesen für die einfach auch nicht cool.

Wie kommt es, dass Russland gegenüber der ersten Iglu-Studie um fast 40 Punkte besser abschneidet?

Da liegen mir die technischen Auswertungen nicht vor. Ich weiß im Moment, dass in Russland acht Prozent der Stichprobe nicht ausgeschöpft hat. Ich weiß nicht genau, welche Kinder nicht berücksichtigt worden sind. Vermutlich handelt es sich nicht um die künftigen Weltmeister im Schachspielen.

Was ist das Erfolgsrezept von Singapur, das sich stark verbessert hat?

Die Kollegen von dort haben mir erklärt, dass in den letzten fünf, sechs Jahren massiv der Englischunterricht vorangebracht worden ist, sogar in den Vorschulen. Man hat die Curricula verändert, man hat stark in die Lehreraus- und Fortbildung investiert. Man hat neue Schulbücher entwickelt. Die jetzt getesteten Schüler sind die ersten, die dieses Programm vollständig durchlaufen haben.

Die Spitzenreiter von Iglu 2001, England, Schweden und die Niederlande sind abgesackt. Warum?

Sie sind immer noch mit uns auf Augenhöhe. Damals waren sie signifikant besser. Ich vermute, die haben sich ein bisschen zurückgelehnt. Das sollte für uns eine Warnung sein. Wir dürfen mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen.

Die Fragen stellte Tilmann Warnecke.

WILFRIED BOS, 54, ist der deutsche Leiter der Iglu-Studie. Er ist Bildungsforscher an der Universität Dortmund und dort auch Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung.

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