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Das belgische Akw Tihange liegt 70 Kilometer von Aachen entfernt – dort werden jetzt Jodtabletten ausgegeben.

© Daniel Jensen/dpa

Alternde Atomreaktoren: Jod gegen das mulmige Gefühl

Aachen verteilt Tabletten. Als Vorsorge vor der hypothetischen Havarie eines Atomreaktors.

Nein, einen Unfall hat es nicht gegeben. Auch ist kein radioaktives Material aus dem belgischen Atomkraftwerk Tihange das keine 70 Kilometer von Aachen entfernt liegt, ausgetreten. Trotzdem werden in der nordrhein-westfälischen Stadt und angrenzenden Gemeinden seit Freitag Jodtabletten verteilt.

Eine "satte" Drüse bewahrt vor Strahlenschäden

Schon lange drängten Regionalpolitiker und Verwaltung dort angesichts diverser Pannen des alten Meilers im Nachbarland darauf, die Bevölkerung mit den Pillen zu versorgen. Sie sollen die Aufnahme von radioaktivem Jod verhindern und Schilddrüsenkrebs vorbeugen. Tatsächlich kann eine rechtzeitige Sättigung der Schilddrüse mit dem Spurenelement Jod verhindern, dass radioaktives Jod aus der Atemluft oder der Nahrung dauerhaft vom menschlichen Körper aufgenommen wird. Allerdings müssen die Tabletten rechtzeitig eingenommen werden.

Die Schilddrüse braucht Jod, um Hormone zu produzieren, die den Schlafrhythmus, die Psyche, das Herz und den Fettstoffwechsel steuern. Etwa 200 Mikrogramm des Stoffes nimmt das Organ täglich auf. In Atomkraftwerken entstehen neben vielen anderen radioaktiven Atomen auch Jod-Isotope. Gelangen sie in die Schilddrüse, schädigt die von den Isotopen ausgehende Strahlung das Erbgut der umliegenden Zellen. Genmutationen und Schilddrüsenkrebs sind mögliche Folgen. Die Jodtabletten, die jetzt im Raum Aachen verteilt werden, enthalten 130 Milligramm Kaliumjodid, fast tausendfach mehr, als die Schilddrüse normalerweise aufnehmen kann. Dadurch schaffen es die radioaktiven Isotope nicht, in die „satte“ Drüse und werden über die Niere ausgeschieden, ohne Schaden anzurichten.

Lokale Behörden weichen von der bundesweiten Schutzstrategie ab

Die Behörden in Nordrhein-Westfalen weichen vom Einsatzplan für die nukleare Gefahrenabwehr ab. Üblicherweise werden an zehn und mehr Kilometer entfernte Anwohner eines Reaktors erst dann Jodtabletten verteilt, wenn ein Ernstfall eingetreten ist. Dazu gibt es überall in der Bundesrepublik Depots, die vom Bundesamt für Strahlenschutz bestückt werden, die für die Beschaffung der Pillen zuständige Behörde. Diese Strategie beruht auch darauf, dass es von der Verteilung einer radioaktiven Wolke nach einem Atomreaktorunfall abhängt, welche Bevölkerungsteile vorsorglich Jodtabletten einnehmen sollten – so hilft die Verteilung westlich eines Reaktors wenig, wenn der Wind am Tag der Katastrophe von Osten kommt. Je nach Wetterlage kann dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zufolge eine Jodeinnahme bis zu hundert Kilometer vom Ort eines Reaktorunfalls entfernt sinnvoll sein.

Der Erfolg der Präventionsmaßnahme hängt vom richtigen Zeitpunkt der Einnahme des Kaliumjodids ab. Auch das spricht für eine Koordinierung durch die Behörden. Nuklearmediziner empfehlen die Einnahme etwa 24 Stunden vor bis maximal wenige Stunden nach einem Kontakt mit Jod-Isotopen. Am wirkungsvollsten seien die Tabletten, wenn sie kurz vor oder sogar während eines Kontakts mit radioaktivem Jod eingenommen werden. Werden die Pillen zu spät geschluckt, kann es sein, dass sich das radioaktive Jod schon festgesetzt oder bereits Schaden angerichtet hat.

Nicht genug Zeit zur Verteilung der Pillen

Die Aachener Behörden argumentieren, dass dieses Zeitfenster nicht ausreiche, um die betroffene Bevölkerung aus den Tabletten-Depots rechtzeitig zu versorgen. Im Fall von Westwind sei eine radioaktive Wolke zu schnell vor Ort. Die Bürger sollen die Pillen daher bei sich führen und im Ernstfall erst dann zu sich nehmen, wenn die Behörden dazu aufrufen.

Die Menschen sollten es allerdings tunlichst unterlassen, auf eigene Faust oder gar regelmäßig große Jodmengen zu schlucken. Zum einen tauscht die Schilddrüse das Jod teilweise wieder aus, so dass eine zu frühe Einnahme der Pillen dazu führen kann, dass wieder Platz für Nachschub ist, wenn gerade die radioaktiven Isotope in der Luft sind. Zum anderen kann eine Überdosierung von Jod schädlich sein, vor allem für Menschen mit einer Schilddrüsenüberfunktion, die sich dann verstärkt.

Älter als 45? Keine Jod-Pillen schlucken!

Menschen über 45 sollten die Pille überhaupt nicht einnehmen, da mit dem Alter das Risiko einer Überfunktion der Schilddrüse steigt. Gleichzeitig sinkt mit dem Alter allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Isotope im Laufe der verbliebenen Lebenszeit noch Schilddrüsenkrebs auslösen. Wirklich helfen können die Pillen Kindern, deren Schilddrüse in der Wachstumsphase besonders aktiv ist, und Schwangeren, um das ungeborene Kind zu schützen, das ab der zwölften Schwangerschaftswoche Jod aufnimmt.

In völliger Sicherheit können sich die Aachener mit den Pillen, die auch rezeptfrei in Apotheken zu bekommen sind, nun allerdings nicht wähnen: Vor anderen Isotopen, etwa Cäsium, das sich ebenso im Körper anreichern kann, schützen die Jodpillen naturgemäß nicht.

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