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Wissen: Jubel in Genf

Die größte Rennstrecke für Elementarteilchen ist eröffnet – Experimente beginnen aber erst in einigen Monaten

Um 10.25 Uhr ist es so weit, nach 25 Jahren Planung, 14 Jahren Bauzeit und Ausgaben von rund vier Milliarden Euro: Eine Prise Protonen dreht die erste Runde im weltgrößten Beschleunigerring. Die Wissenschaftler und Techniker im Kontrollzentrum der LHC (Large Hadron Collider) genannten Rennstrecke für Elementarteilchen in Genf jubeln. Sie klatschen, klopfen auf die Schultern ihrer Nachbarn und strahlen übers ganze Gesicht.

Die größte Maschine der Welt, die wenigstens ein paar Antworten auf die wichtigsten Fragen der Elementarteilchenphysik liefern soll, läuft. Zumindest mit Standgas. „Bis wir die ersten Protonen miteinander kollidieren lassen, werden noch mindestens zwei Monate vergehen“, sagte Thomas Lohse von der Berliner Humboldt-Universität, der an Experimenten am LHC beteiligt ist und am gestrigen Mittwoch den Start der Anlage bei einer Videokonferenz im Bundesforschungsministerium (BMBF) verfolgte. Jetzt müsse der Beschleunigerring weiter hochgefahren werden. Das heißt: die Protonenstrahlen schneller drehen lassen und die vier Detektoren, mit denen man den Zusammenprall der Elementarteilchen beobachten will, justieren.

„Aber natürlich freuen wir uns, dass wir diesen Meilenstein erreicht haben, und sehen, dass Protonen ihre Runden drehen können“, sagte Lohse. Wie viel Aufwand dafür nötig ist, lässt sich kaum erahnen. 27 Kilometer ist die Röhre lang, die in rund 100 Meter Tiefe verläuft. Um die Protonen, die sonst geradeaus fliegen würden, auf eine Kreisbahn zu zwingen, haben die Techniker 1232 Elektromagnete montiert. Diese müssen so präzise gesteuert werden, dass der Teilchenstrahl – der selbst kaum dicker als ein menschliches Haar ist – nur um Bruchteile von Millimetern von der Ideallinie abweicht. Damit die Protonen nicht mit Luftteilchen zusammenstoßen, herrscht in der Röhre ein Vakuum, das um ein Vielfaches „leerer“ sei als das Weltall, sagt Lohse.

Und schnell müssen die Teilchen sein, 99,9999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit sollen sie schaffen, also nur um ein Millionstel langsamer sein als ein Sonnenstrahl. Um sie derart auf Trab zu bringen, gibt es zwei Vorbeschleuniger – einen lang gestreckten und einen kreisförmigen –, die die Elementarteilchen bereits auf rund 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit jagen. Erst dann dürfen sie in den großen Beschleunigerring. Aber nur grüppchenweise.

Etwa einen Zentimeter sind die haardünnen Protonenwölkchen lang, die in der kreisförmigen Vakuumröhre weiter angetrieben werden. Jedes Proton hat dann eine Energie von sieben Teraelektronenvolt, mehr als dreimal so viel, wie man bislang mit Teilchenbeschleunigern geschafft hat. Zum Vergleich: Die ganze Wolke besitzt so viel Energie wie ein Auto, das 1600 Kilometer pro Stunde fährt. Doch das reicht den Forschern am Europäischen Zentrum für Teilchenphysik (Cern) noch nicht. Künftig sollen zwei Strahlen gegenläufig rotieren.

Wenn sie dann aufeinandergehetzt werden, beträgt die Energie beim Zusammenstoß von zwei Protonen 14 Teraelektronenvolt. Die Physiker hoffen, dass dabei Teilchen entstehen, die zwar in Theorien beschrieben, aber noch nicht nachgewiesen sind. Auf der Fahndungsliste ganz oben steht das Higgs-Boson. Es soll anderen Teilchen ihre Masse verleihen und ist ein wesentliches Element im Standardmodell der Elementarteilchenphysik.

Die Wolke, die gestern im Uhrzeigersinn die Premierenrunde drehte, konnte die Fragen der Forscher freilich nicht beantworten. Sie war viel zu langsam – zumindest aus der Perspektive eines Teilchenphysikers –, und es gab nicht mal eine Kollision. Dennoch waren die Forscher zufrieden. „Das ist ein historischer Moment, ich bin schlichtweg begeistert“, sagte Rolf-Dieter Heuer vom Deutschen Elektronensynchrotron (Desy) und von 2009 an Chef des Cern. Er freue sich auf die neuen Kollegen, die eine so hervorragende Arbeit geleistet hätten.

In dem Genfer Forschungszentrum arbeiten mehr als 8000 Gastwissenschaftler aus 85 Ländern. Etwa 1000 davon kommen aus Deutschland. Auch finanziell ist die Bundesrepublik maßgeblich beteiligt: Mit jährlich rund 120 Millionen Euro übernimmt das Land rund ein Fünftel des Cern-Budgets und ist damit der größte Beitragszahler unter den 20 Mitgliedsstaaten. Dass sich Investition in Grundlagenforschung lohne, könne man beispielsweise am World Wide Web sehen, das ebenfalls am Cern entwickelt wurde, sagte Thomas Rachel, Staatssekretär im BMBF.

Welche Revolutionen der LHC hervorbringt, weiß keiner. Wenige Minuten nach dem Protonendurchlauf mahnte denn auch Thomas Lohse zur Bescheidenheit: „Wir haben viel geschafft, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns.“

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