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Gesellschaft: Jugendliche als sozialer Sprengstoff

In seiner Abschiedsvorlesung von der Universität Bielefeld warnt Jugendforscher Klaus Hurrelmann (65): Jeder fünfte Schüler ist benachteiligt – doch das Gemeinwesen reagiert zu langsam.

Kinder und Jugendliche bilden in unserer Gesellschaft eine Gruppe, deren Existenzrechte und Entfaltungsmöglichkeiten im Zweifelsfalle anderen Interessen untergeordnet werden. Die junge Generation ist historisch schon immer am stärksten von politischer und ziviler Gewalt, Vernachlässigung und Benachteiligung betroffen gewesen. Sie muss gleichzeitig mit dem tief sitzenden Vorurteil der älteren Generationen leben, unfähig und unzuverlässig zu sein. Diese Benachteiligung und Stigmatisierung der jungen Generation gilt bis heute. In keiner Gruppe der Bevölkerung der reichen und etablierten Bundesrepublik Deutschland ist der Anteil von Menschen in relativer Armut größer als bei Kindern.

Um die Menschen-Kinder zu stärken, sollten diese Fragen beantwortet werden: Welche Impulse und Anregungen aber brauchen Kinder und Jugendliche, um selbstständig, leistungsfähig und sozial verantwortlich zu sein? Welche Kompetenzen und Lebensbedingungen benötigen Eltern, um ihren Kindern optimale Entwicklungs- und Erziehungsmöglichkeiten einzuräumen?

Ein theoretisch tragfähiges Konzept von Sozialisation hat es bis Mitte der 80er Jahre nicht gegeben. Es herrschte ein veralteter Begriff von Sozialisation als Übernahme gesellschaftlicher Rollen vor. Ich fühlte mich theoretisch herausgefordert und habe mich im Rahmen des 1986 gegründeten Sonderforschungsbereichs „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ um ein innovatives Modell mit interdisziplinärer Ausstrahlung bemüht.

Das Modell der Sozialisation als „produktive Verarbeitung der inneren und der äußeren Realität“ orientiert sich an einem dynamischen Menschen- und Gesellschaftsbild und lässt die traditionellen Ansätze hinter sich. Der Mensch steht in einem aktiven Austausch zwischen der inneren Realität seines Körpers und seiner Psyche und seiner äußeren Realität, der sozialen und der physikalischen Umwelt. Er ist bemüht, lebenslang suchend und sondierend in die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und die der sozialen und dinglichen Umwelt zu seinem eigenen Vorteil einzugreifen. Die Persönlichkeitsentwicklung ist das Ergebnis der ständigen Abstimmung zwischen den körperlichen und psychischen Bedürfnissen und den Vorgaben und Angeboten der sozialen und materiellen Umwelt.

In empirischen Studien konnten wir das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung umsetzen. So war es möglich, die Ausgangsbedingungen zu benennen, die zu Leistungsdefiziten, gestörtem sozialen Verhalten, Aggression und Gewalt, Drogenkonsum und Suchtgefahr, psychosomatischen Störungen, Aufmerksamkeits-Defizitsymptomen und Störungen der Körpergewichtsregulation bei Kindern und Jugendlichen führen. Wir konnten angeben, in welcher sozialen und familiären Ausgangslage diese Risikofaktoren besonders ausgeprägt sind.

Die Benachteiligung ist am stärksten, wenn ein Kind in einem Elternhaus aufwächst, das wirtschaftlich relativ schwach ist, in dem die Eltern einen geringen Bildungsgrad haben und nur wenig mit der sozialen Umwelt vernetzt sind. Es sind die drei Dimensionen Finanz-, Bildungs- und Integrationsarmut, die zu Entwicklungsstörungen im Leistungs- und Gesundheitsbereich führen – vor allem dann, wenn sie zusammentreffen und sich einander aufschaukeln. Diese Konstellation trifft vor allem Kinder mit einem Migrationshintergrund. Kinder benötigen von Anfang ihres Lebens an reichhaltige Impulse aus dem Elternhaus, die alle ihre Sinne ansprechen, also Körper und Psyche stimulieren und zugleich ihre Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit der sozialen und der physikalischen Umwelt stärken, um eine produktive Realitätsverarbeitung zu ermöglichen.

Viele Elternhäuser sind aber hiermit überfordert. Es braucht, wie ein afrikanisches Wort sagt, ein „ganzes Dorf“, um ein Kind zu erziehen und zu einer starken Persönlichkeit zu machen. Diese Voraussetzungen sind besonders bei den Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Elternhäusern häufig nicht gegeben. Hier rächt sich die Elternfixiertheit von Erziehungsprozessen, denen Kinder auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Den Kindern täte das „ganze Dorf“ gut, um eine korrigierende und unterstützende Struktur in der sozialen Umwelt zu haben. Fehlt diese Unterstützung, kumulieren bei ihnen alle Nachteile.

In zahlreichen empirischen Studien aus dem Sonderforschungsbereich haben wir diese Studienergebnisse publiziert. Spätere Untersuchungen im internationalen Forschungsverbund Health Behaviour in School Children (2003 bis 2008) sowie die Shell Jugendstudie (2006) haben die Befunde bestätigt.

Dauerhaft strukturell benachteiligt ist etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen. Zeitvergleiche machen deutlich, dass die soziale Ungleichheit seit drei Jahrzehnten immer stärker geworden ist. Die besonders benachteiligten 20 Prozent stehen heute relativ noch schlechter da als 1979, die bevorzugten 20 Prozent haben ihre Position weiter verbessert. Die Schere zwischen Arm und Reich ist auch in Deutschland immer weiter auseinandergegangen. Für die gesamte Gesellschaft ist das ein sozial- und allgemeinpolitischer Sprengsatz, weil Misstrauen und Unsicherheit sowie Gefühle der Ungerechtigkeit und Diskriminierung anwachsen, die sich in Depression und Gesundheitsstörungen ebenso wie in Aggression und Kriminalität niederschlagen können.

Unsere Untersuchungen zur Verbreitung und zum Profil von Aggression und Gewalt von Kindern und Jugendlichen führten zu dem Ergebnis, dass bestimmte Erziehungsstile von Eltern, vor allem inkonsistente, aggressive und vernachlässigende, eine zentrale Ursache bilden. Daraus haben wir den Vorschlag abgeleitet, die Elternbildung und das Elterntraining zu verstärken und öffentliche Angebote für Mütter und Väter bereitzuhalten, die möglichst mit Kindergarten, Grundschule und anderen Erziehungseinrichtungen verzahnt sein sollen.

Viele dieser Vorschläge wurden inzwischen aufgenommen, meist durch private und gemeinnützige Initiativen, mit denen ich auch direkt zusammengearbeitet habe – etwa durch den Deutschen Kinderschutzbund und das Eltern-Weiterbildungsprojekt „Step“. Familienzentren mit Elternschulen an Kindergärten und Grundschulen sind an einigen Stellen auch mit staatlicher Unterstützung entstanden. Auch der gezielte Vorschlag aus dem Sonderforschungsbereich, schrittweise die körperliche Züchtigung von Kindern zu sanktionieren, wurde im Jahre 2000 mit in die politischen Beratungen aufgenommen und führte mit zum Verbot der Körperstrafe für Eltern im Bürgerlichen Gesetzbuch.

Die Möglichkeiten, Eltern in ihrem Erziehungsverhalten und in ihren Erziehungskompetenzen im gesellschaftlich abgeschlossenen Familienbereich zu beeinflussen, sind indes begrenzt. Immer wieder haben wir deswegen auf die Grenzen der traditionellen, bei uns seit Jahrzehnten vorherrschenden Elternförderung durch finanzielle Transfers, etwa das „Kindergeld“, hingewiesen und aus unseren Untersuchungsergebnissen den Vorschlag abgeleitet, verstärkt in die Förderung von benachteiligten Kindern über die Angebote der öffentliche Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zu investieren. Nur auf diesem Wege können die Leistungs-, Sozial- und Gesundheitskompetenzen von Kindern und Jugendlichen direkt gestärkt werden.

Unsere Studien sprachen schon früh für die Einführung von Vorschuleinrichtungen und Ganztagsschulen. Sie gehören mit zum „ganzen Dorf“, das ein Kind zur Ergänzung und manchmal auch zur Korrektur der Familie benötigt. Nach 40 Jahren zeigen sich heute erste politische Effekte dieser Forschung. Aber von einer konsequenten Umsetzung dieser Vorhaben kann nicht die Rede sein.

Klaus Hurrelmann (65) war seit 1980 Professor an der Universität Bielefeld, an der Fakultät für Pädagogik und später an der von ihm mitbegründeten Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Vom kommenden März an wird Hurrelmann Professor an der Hertie School of Governance in Berlin. Dieser Artikel basiert auf der Abschiedsvorlesung, die Hurrelmann am ges trigen Mittwoch in Bielefeld hielt.

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