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Raumfahrt: Juri der Große

Gina Lollobrigida küsste ihn, die Queen ließ sich mit ihm knipsen, die USA fühlten sich herausgefordert: Juri Gagarin war heute vor 50 Jahren der erste Mensch im All.

Es waren nicht mal zwei Stunden, die ihn plötzlich zur Propagandafigur, zum Superstar, ja zur unsterblichen Ikone werden ließen. Um 9.08 Uhr, als sich seine Rakete dröhnend von der Startrampe löst, ist Juri Alexejewitsch Gagarin noch ein unbekannter junger Mann aus der russischen Provinz. Um 10.55 Uhr, als er mit seinem Fallschirm auf einem Acker unweit der Wolga landet, verehrt ihn schon die ganze Welt. Bald wird er mit der Queen speisen, von Gina Lollobrigida geküsst und von Millionen Menschen in Havanna, Paris, Delhi oder Tokio bejubelt werden.

Dass der 27-jährige Gagarin an diesem 12. April 1961, einem warmen, sonnigen Mittwoch, als erster Mensch ins All vordringen und die Erde einmal umrunden würde, ahnte noch am frühen Morgen kaum jemand. Der bemannte Weltraumflug war ein streng geheimes Projekt. Selbst Gagarins Frau Valentina konnte bis zuletzt nur vermuten, worauf ihr Mann monatelang vorbereitet worden war.

Denkbar abgelegen hatten die Sowjets ihre Raketenbasis in die unwirtliche Steppe Kasachstans gebaut. Nur die Siedlung Tjuratam – an der Eisenbahnstrecke Moskau-Taschkent gelegen und benannt nach einem Nachfahren Dschingis Khans – befand sich in unmittelbarer Nähe. Dass die Sowjets das Kosmodrom „Baikonur“ tauften, war ein Trick, um die Westmächte zu verwirren; der Ort Baikonur lag mehr als 300 Kilometer nordöstlich.

Vor Gagarins Pioniertat hatte die Regierung mehrere Mitteilungen vorbereitet, darunter eine Trauermeldung. Ob sie je gesendet worden wäre, ist fraglich. Die Geheimhaltung machte es möglich, ein Unglück oder zumindest dessen genaue Umstände zu verschweigen. Mit der frohen Botschaft wartete die Agentur Tass fast eine Stunde, bis halbwegs sicher schien, dass alles geglückt war. Um 10.02 Uhr unterbrach ein Sprecher das sowjetische Radioprogramm und meldete feierlich: „Das erste Raumschiff der Welt, ,Wostok’, ist heute ... mit einem Menschen an Bord in einen Orbit über der Erde gestartet. Der Kosmonautenpilot ... ist ein Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Luftfahrtmajor Juri Gagarin.“ Erst in diesem Moment erfuhr die Welt von Gagarins Existenz.

Und nicht überall herrschte Freude. Die US-Regierung erschütterte der Triumph des kommunistischen Feindes zutiefst. Fünf Wochen nach Gagarins Flug trat Präsident Kennedy die Flucht nach vorne an und verkündete, die USA würden noch vor Ende des Jahrzehnts einen Mann auf den Mond bringen – ohne Gagarin hätte es Apollo 11 wohl nie gegeben.

Juri Gagarin stammte aus der Region Smolensk im Westen Russlands, einer Gegend voller Birken und weiter Felder. Der Zweite Weltkrieg prägte seine Kindheit. Als er sieben Jahre alt war, beobachtete er, wie Wehrmachtssoldaten in sein Heimatdorf Kluschino eindrangen. In den über anderthalb Jahren, die die Besatzer blieben, musste die Familie ihr Holzhaus verlassen und in einer Erdhütte hausen.

Glaubt man Gagarins Autobiografie „Der Weg in den Kosmos“ (neu aufgelegt beim kleinen Elbe-Dnjepr-Verlag), so entstand seine Begeisterung fürs Fliegen kurz vor dem deutschen Einmarsch ins Dorf. Damals sei eine angeschossene sowjetische Maschine auf einer Wiese in Kluschino niedergegangen, der Pilot konnte sich in letzter Sekunde retten. Kurz darauf landete ein weiteres Flugzeug, mit einem Flieger, der dem Kameraden helfen wollte. Gagarin und andere Dorfjungen setzten sich in den Pilotenstand, „schnüffelten begierig den uns noch unbekannten Benzingeruch und besahen die Einschusslöcher auf den Tragflächen“.

Gagarins Mutter ist Kolchosbäuerin, der Vater Zimmermann – die Propaganda des Arbeiterstaats UdSSR wird die einfache Herkunft des Kosmonauten später immer wieder herausstreichen. Er selbst besucht nur sechs Jahre die Schule, lernt Gießer, holt dann aber die mittlere Reife nach. Schon in seiner Jugend ist er Mitglied eines Flugsportklubs, 1956 wird er schließlich Jagdflieger in der Armee.

Im Jahr darauf erlebt der mittlerweile 23-Jährige, wie es seinem Heimatland gelingt, den ersten künstlichen Trabanten in die Erdumlaufbahn zu schießen. Mit dem Sputnik beginnt der Kalte Krieg im Kosmos – der Wettlauf der beiden Supermächte um die Vorherrschaft im All. Denn der Satellit schockt die Amerikaner und erfüllt die Russen mit Stolz. „Als wir abends vom Flugplatz kamen, gingen wir sofort in den Klubraum zum Radioapparat und hörten mit angehaltenem Atem die ... Berichte über den Flug dieses Erstlings der internationalen Raumfahrt“, erinnert sich Gagarin in seinem Buch.

Die USA wie die Sowjetunion wollen fortan mit Erfolgen in der Raumfahrt die Überlegenheit ihres jeweiligen Gesellschaftssystems beweisen. Im November 1957 schickt die UdSSR erstmals ein Lebewesen in den Weltraum, Hündin Laika stirbt allerdings. Die Amerikaner starten kurz darauf ihr „Mercury“-Programm; das Ziel: den ersten Mann ins All zu bringen. Grundlage ist in Ost wie West deutsche Technik. Schon in den 20er Jahren, aber vor allem unter den Nazis war der Raketenbau in Deutschland forciert worden. Die USA und die Sowjetunion profitieren als Siegermächte enorm davon.

Elektrisiert von den Fortschritten in der Raumfahrt, beantragt Juri Gagarin 1959, Anwärter für einen bemannten Raumflug zu werden. Gagarin – blaue Augen, blondes Haar – ist nicht groß, aber durchtrainiert. Wie alle Bewerber muss er wochenlange Untersuchungen über sich ergehen lassen. Mit diesen soll getestet werden, wie nervenstark und körperlich widerstandsfähig die Männer sind. Gagarin werden Rechenaufgaben gestellt, während ihn ein Lautsprecher beschallt. Er muss in eine karussellartige Zentrifuge und in eine Unterdruck-Kammer.

Noch immer können die Mediziner nur vermuten, wie sich die Bedingungen im Weltall auf einen Menschen auswirken werden. 1960 gelingt es den Sowjets, zwei Hunde (Belka und Strelka) um die Erde zu schicken und wohlbehalten zurückzubringen. Doch die größte Sorge bleibt: Könnte ein Kosmonaut während eines vergleichbaren Flugs verrückt werden? Und so ist es, abgesehen von seiner aufrichtigen kommunistischen Gesinnung, wohl vor allem Gagarins ausgeglichenes, unerschütterliches Wesen, das ihn am Ende zur Nummer eins macht.

Als einen „Sanguiniker, wie er im Buche steht“ beschreibt ihn seine Biografin Ludmila Pavlova-Marinsky: „beweglich, umgänglich, lebenslustig, begeisterungsfähig und optimistisch“. Die gebürtige Moskauerin, seit über 20 Jahren Journalistin in Deutschland, hat den Kosmonauten als Kind kennengelernt. Ihr Vater war als Chef des kommunistischen Jugendverbands einst eng mit Gagarin befreundet, jedes Jahr verbrachten die Familien ihren Urlaub gemeinsam auf der Krim. In Pavlova-Marinskys lesenswertem Buch „Juri Gagarin – Das Leben“ (Verlag Neues Leben) schwingt noch die schwärmerische Zuneigung des jungen Mädchens für den gutaussehenden, berühmten „Onkel Jura“ mit. Der sei seinen zwei Töchtern ein „zärtlicher Vater“ gewesen; bodenständig und belesen, habe er die meisten Menschen für sich einnehmen können.

Doch auch kritischere Biografen kommen zu einem ähnlichen Urteil. Gagarin habe sein Leben mit „Anstand, Mut und Ehre“ gelebt, schreiben der vielfach ausgezeichnete Doku-Filmer Jamie Doran und sein Produzent Piers Bizony in „Starman – The Truth behind the Legend of Yuri Gagarin“.

Selbst der damals höchste Mann in der Sowjetunion erlag Gagarins Charme. „Danke, Söhnchen!“, sagte Nikita Chruschtschow während der großen Jubelfeier auf dem Roten Platz zu ihm. Vielleicht erinnerte ihn der Kosmonaut an seinen mit 26 Jahren verstorbenen Sohn Leonid. Dieser war ebenfalls Flieger gewesen und bei einem Luftkampf während des Weltkriegs umgekommen.

Nikita Chruschtschow, KP-Chef von 1953 bis 1964, war sowieso ein großer Anhänger der Raumfahrt. Innenpolitisch stand der bärbeißige Politiker mit der Glatze für eine Liberalisierung und die Abkehr vom Stalinismus. Sein außenpolitischer Kurs dagegen war widersprüchlich. Einerseits versuchte er das Verhältnis zur USA zu entspannen, andererseits trumpfte er umso offensiver mit sowjetischen Erfolgen auf und bluffte, wo es nur ging. Raketen, sagte Chruschtschow einmal, würden in der UdSSR wie Würstchen gestanzt – natürlich eine dreiste Lüge.

Trotz der zunächst vertuschten Nedelin-Katastrophe, einer Explosion in Baikonur, bei der im Oktober 1960 über 100 Menschen starben, beschlossen Chruschtschow und das Politbüro Anfang April 1961 den bemannten Raumflug – für den Zeitraum vom 10. bis zum 20. April. Man befürchtete, die USA könnten sonst schneller sein. Auch waren mehrere Versuche mit einer Testpuppe erfolgreich verlaufen.

Schon im Morgengrauen des 11. April wird die Trägerrakete R-7 in Baikonur aus dem Hangar gefahren und aufgerichtet. Sie ist rund 40 Meter hoch und wiegt fast 300 Tonnen. An ihrer Spitze befindet sich das Raumschiff „Wostok“ (Osten), in das Gagarin 24 Stunden später einsteigen wird. Es besteht aus der hermetisch abgeschlossenen, kugelförmigen Kabine für den Raumfahrer und der größeren, kegelförmigen Versorgungseinheit, die die notwendige Technik birgt, zum Beispiel das Bremstriebwerk oder die Funkanlage.

Die Konstruktion ist ein Meisterstück, für das vor allem ein Mann verantwortlich ist: Sergej Koroljow. In Gagarins Buch heißt er nur „der Chefkonstrukteur“. Zeit seines Lebens war Koroljows Identität geheim. Als das Nobelpreis-Komitee den genialen Ingenieur für den Sputnik ehren wollte, ließ Chruschtschow wissen, „das sowjetische Volk“ habe den Satelliten entwickelt. Koroljow, gebürtiger Ukrainer, war unter Stalin als „Volksschädling“ ins Lager geworfen worden. Weggefährten meinten, dass er sich danach vor nichts mehr fürchtete.

In der Nacht zum 12. April schläft der damals 54-jährige Koroljow dennoch kaum. Der Tag, der in die Geschichte eingehen wird, ist gekommen. Um 5.30 Uhr weckt man Gagarin. Nach dem Frühstück wird er medizinisch untersucht. Er legt einen blauen Overall an, und darüber den orangenen Raumanzug.

Ein Bus bringt Gagarin zur Rakete. Schon von Weitem sieht er ihren „himmelwärts gestreckten silbrigen Leib ... mit ihren sechs Triebwerken von insgesamt 20 Millionen PS“. Ein Aufzug trägt ihn zur Raumschiffkabine. Die Kapsel hat einen Durchmesser von 2,30 Metern. Gagarin liegt in einem Sessel. Nach 90 Minuten des Wartens gibt der technische Flugleiter durch: „Das Kommando zum Zünden ist erfolgt ... Vorstufe ... Zwischenstufe .... Voller Aufstieg!“ „Auf geht’s!“, erwidert Gagarin. Die Rakete hebt ab, und er wird in den Sitz gepresst. Durch ein Bullauge sieht er irgendwann die Erdoberfläche. Er ist schwerelos. Mit 28 250 km/h umkreist er den Planeten.

Erst in den 90er Jahren wurde bekannt, was später, kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, passierte. Planmäßig wurde die Kabine von der Versorgungseinheit abgesprengt, doch der Kabelschlauch, der beide Teile miteinander verband, löste sich nicht. Das Hitzeschild der Kabine hätte so wohl nicht funktioniert und Gagarin wäre tödlich hohen Temperaturen ausgesetzt gewesen.

Aber nach zehn Minuten riss der Schlauch dann doch, und alles ging gut. In sieben Kilometer Höhe öffnete sich der Kapsel-Fallschirm, ein Schleudersitz katapultierte Gagarin hinaus, dessen Fallschirm öffnete sich – und der Kosmonaut landete, 108 Minuten nach seinem Start, im Südwesten Russlands. Eine alte Bäuerin entdeckte ihn zuerst, der Mann im orangenen Anzug jagte ihr Angst ein.

Zwei Tage später fährt Gagarin in einem offenen, mit Blumen geschmückten Wagen durch Moskau, umringt von einer Menschenmenge. Die Staatsführung hat einen echten Sympathieträger entdeckt, wahrscheinlich den größten in der Geschichte der UdSSR. Eltern in aller Welt nennen ihre Kinder Juri, und Gagarin wird auf „Friedensmission“ in Dutzende Länder geschickt, unter ihnen auch westliche wie Kanada. Wo immer er auftaucht, herrscht Begeisterung. Gagarins bescheidene Art kommt an. In London lässt sich die Queen mit dem Kosmonauten ablichten und erklärt, Gagarin sei kein gewöhnlicher Erdenmensch.

Bald muss Gagarin jedoch miterleben, wie die Raumfahrt unter dem neuen KP-Chef Leonid Breschnew an Bedeutung verliert. Mit dem Tod von Chefkonstrukteur Koroljew 1966 gerät die Sowjetunion gegenüber den USA dann endgültig ins Hintertreffen.

Zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution soll 1967 dennoch unbedingt das neue Raumschiff „Sojus“ starten. Gagarin weiß, dass es unausgereift ist, versucht mit aller Macht, den Start zu verhindern. Aber er scheitert. Und seine Prophezeiung erfüllt sich: Kosmonaut Wladimir Komarow stirbt bei der Landung.

Auch Gagarins Ende ist tragisch. Jahrelang hatte man ihm, dem lebenden Denkmal, das Fliegen verboten. Als er es endlich wieder darf, absolviert er mehrere Trainingsflüge – und stirbt bei einem davon, am 27. März 1968. Warum Gagarins MiG-15 abstürzte, weiß man bis heute nicht. Vielleicht stieß sie mit einer Wettersonde zusammen, vielleicht geriet sie in den Luftstrom eines anderen Flugzeugs. Die Erklärung der Führung fiel bewusst schwammig aus. An der Unfehlbarkeit der sowjetischen Luftüberwachung durfte es keine Zweifel geben.

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