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Klimaforschung: Eisiges Archiv

In Sibirien ist die Klimageschichte seit langer Zeit erhalten. Jetzt wurden die „Akten“ geborgen.

Klimaforscher mehrerer Nationen warten derzeit gespannt auf Neuigkeiten aus Köln. Dort werden Sedimentproben aus einer der schwierigsten Tiefbohrungen teils auf verschiedene Institutionen verteilt, teils für spezielle Untersuchungen geöffnet. Sie stammen vom El Gygytgyn, was in der Sprache der Tschuktschen „Weißer See“ bedeutet. Er befindet sich im Osten Sibiriens, fast 100 Kilometer nördlich des Polarkreises im Permafrost.

Der See war jahrzehntelang Gegenstand eines Streits der Geologen. Ursprünglich dachte man, dass der Krater, in dem er sich befindet, durch vulkanische Explosionen entstanden sei. In den siebziger Jahren fanden russische Wissenschaftler jedoch in Gesteinsproben der Umgebung hitzegeschockte Minerale, die nur durch einen Meteoriteneinschlag entstanden sein konnten. Sämtliche Datierungen wiesen auf dieselbe Zeitmarke: 3,6 Millionen Jahre. Da die Landschaft ringsum keine Spuren einer Vergletscherung zeigen, müsste der See über den gesamten Zeitraum existiert haben. Einen so alten, ungestörten See kannte man bis dahin in der Arktis nicht.

„Während mehrerer Erkundungsexpeditionen, die erste noch von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) getragen, festigte sich unsere Vermutung, dass wir in dem See Sedimente finden, die lückenlos bis zu 3,6 Millionen Jahre zurückreichen“, sagt Martin Melles, Dozent an der Universität Köln und seit 1998 deutscher Leiter des El Gygytgyn-Projekts. Zum Vergleich: Klimadaten, die aus dem grönländischen Inlandeis gewonnen werden, beschränken sich auf die letzten 100 000 Jahre. Die tiefsten Schichten der „Epica“-Bohrung in der Antarktis sind um die 790 000 Jahre alt.

Die Arbeiten in Sibirien waren extrem aufwendig. Gebohrt werden musste im Winter, bei manchmal minus 45 Grad Celsius, von der Eisdecke des Sees. Kanadische Spezialisten haben das Eis künstlich verstärkt, damit es das Bohrgestänge trägt. Die nächste Siedlung liegt 260 km entfernt. Alles was ein Bohrcamp von bis zu vierzig Personen benötigt, musste mühsam herangeschafft werden; Fahrwege gibt es dort nicht.

Doch die Mühe hat sich gelohnt. Die Forscher bargen Proben aus der gesamten Sedimentsäule des El Gygytgyn, auch aus dem Trümmergestein darunter.

Nun ist klar: Der See ist tatsächlich ein Meteoritenkrater. Die unteren Bohrkerne bestehen aus einer „Impaktbrekzie“, eckigem Gesteinsschutt, der beim Einschlag ausgeworfen und zum Teil aufgeschmolzen worden ist. Christian Koeberl, ein Spezialist für Impaktbrekzien, erklärt den Vorgang so: „In weniger als einer Minute hebt sich ein Berg von mehreren Kilometern Durchmesser um mehr als einen Kilometer aus dem Boden.“

Seine Arbeitsgruppe an der Universität Wien wird diesen Teil der Bohrkerne untersuchen, auch um etwas über die Natur des Meteoriten und die Auswirkungen des Einschlags zu erfahren. Bewiesen ist nun auch, dass der Krater seit 3,6 Millionen Jahren unvergletschert geblieben ist. Selbst in Kaltzeiten, gab es – anders als in Europa – in Ostsibirien keine großflächigen Eisdecken.

Seit langem gelten die sibirischen Frostgebiete als eine Region, die sehr früh auf Klimaänderungen reagiert. Aufgrund ihrer Ausdehnung und weil aus den Permafrostböden massenhaft Treibhausgase entweichen, wenn die Temperaturen anhaltend steigen, werden sie auch Impulsgeber sein für die künftige globale Entwicklung. Die Sedimentproben sind deshalb so aufschlussreich, weil an ihnen ablesbar ist, wie starke Klimawechsel vonstattengehen. „Die Erkenntnisse, die wir aus den ältesten Bohrkernen gewinnen, können als Modellfall für die Arktis in einigen Jahrzehnten dienen“, sagt Melles. „Den Klimamodellen zufolge rechnen wir dort mit einer besonders drastischen Erwärmung.“ Die abschließenden Ergebnisse sollen in etwa anderthalb Jahren vorliegen.

Gert Lange

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