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Prävention aus der Flasche. Seit Jahrzehnten wird Kindern Lebertran gegeben, um Krankheiten vorzubeugen. Nun wollen Forscher einen der Inhaltsstoffe, Vitamin D, in klinischen Studien mit tausenden Freiwilligen testen.

© Getty Images

Krankheitsvorbeugung: Vitamin D für alle?

Schutzschild gegen Krebs, Diabetes, Herzinfarkt und Infektionen: Vitamin D wird als Präventionspille schlechthin gehandelt. Doch bisher fehlen Studien, die das zweifelsfrei belegen.

Im Jahr 1848 unternahmen Ärzte am Londoner Krankenhaus für Schwindsucht und Erkrankungen der Brust eine der ersten klinischen Studien der Welt. Mehr als 1000 Tuberkulosepatienten wurden entweder nur gepflegt (eine wirksame Therapie gab es nicht) oder sie bekamen zusätzlich einen Löffel voll Lebertran. Bei 33 Prozent der Patienten, die nur gepflegt wurden, verschlechterte sich der Zustand oder sie starben. In der Lebertrangruppe waren es nur 19 Prozent.

Bevor in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Ära der Antibiotika anbrach, wurden viele Tuberkulosepatienten auch in Sanatorien in der Schweiz oder anderen Ländern geschickt. Dort wurden sie in ihren Betten an die frische Luft gerollt, um sich von den Strahlen der Sonne therapieren zu lassen. Im Rückblick, sagt der Immunologe Adrian Martineau von der University of London, könnte der heilsame Effekt von Lebertran und Licht eine gemeinsame Ursache gehabt haben: Vitamin D.

Eigentlich ist die Substanz, die erst 1922 entdeckt wurde, kein echtes Vitamin. 90 Prozent davon produziert der menschliche Körper selbst – mithilfe des Sonnenscheins (siehe Grafik). UV-Strahlen dringen in die Haut ein und wandeln dort ein Molekül namens 7-Dehydrocholesterin in Vitamin D3 um. Die restlichen zehn Prozent nimmt der Mensch mit der Nahrung zu sich. In den USA oder Kanada vor allem über Milch, die künstlich mit Vitamin D angereichert ist. Aber es kommt auch natürlich in einigen Lebensmitteln vor, unter anderem fettigem Fisch, sonnengetrockneten Pilzen – und Lebertran.

Es ist allgemein anerkannt, dass Vitamin D für gesunde Knochen nötig ist. Der Stoff hilft dem Körper, Kalzium aufzunehmen, und Kinder, die zu wenig Vitamin D haben, leiden unter Rachitis, einer Krankheit, bei der die Knochen zu weich sind. Aber der Immunforscher Martineau ist überzeugt, dass die Substanz auch Infektionskrankheiten wie Tuberkulose bekämpfen und sogar vorbeugen kann. So hätten Studien gezeigt, dass Vitamin D zumindest in der Petrischale Immunzellen hilft, Tuberkuloseerreger zu töten.

Grafik. Der Weg des Vitamins.
Grafik. Der Weg des Vitamins.

© Tagesspiegel

Auch andere Untersuchungen legen einen Zusammenhang zwischen Infektionskrankheiten und Vitamin D nahe. In einer 2010 publizierten Studie wurden 334 japanische Schulkinder in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Kinder, die Vitamin-D-Pillen erhielten, erkrankten seltener an einer Grippe als die Kinder, die nur Placebopillen ohne Wirkstoff erhielten. Und im August veröffentlichten Forscher der Harvard Medical School in Boston eine Studie an Schulkindern in der Mongolei im Fachblatt „Pediatrics“. Die Kinder, deren Milch mit Vitamin D angereichert war, bekamen halb so häufig eine Erkältung wie Kinder, die normale Milch tranken. Der Effekt könnte sich auch im Alltag bemerkbar machen. Es sei plausibel, dass niedrigere Vitamin-D-Spiegel im Winter der Grund dafür seien, dass Erkältungen vor allem in der kalten Jahreszeit aufträten, sagt Julian Peto, Epidemiologe an der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Peto und Martineau sind mit ihrem Enthusiasmus nicht allein. Eine wachsende Gruppe von Forschern preist Vitamin D als eine Art Allzweckvitamin. Es soll Erkältungen und andere Infektionen abwehren, Asthma und Diabetes vorbeugen, Krebs, Multiple Sklerose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern. Allein in den USA und Kanada könnte die Sonnenscheinsubstanz jedes Jahr 100 000 Fälle von Brust- und Darmkrebs verhindern, rechnete 2009 eine Forschergruppe in den „Annals of Epidemiology“ vor. Drei Viertel der Todesfälle durch diese Erkrankungen ließen sich so vermeiden.

Könnte Vitamin D wirklich so wichtig sein? Ja, sagt Peto und verweist auf die Evolution. „Das stärkste Indiz ist die Tatsache, dass der Mensch blasser wurde, als er nach Norden zog“, sagt er. Dunklere Haut schützt die Zellen des Körpers zwar vor UV-Schäden. Zugleich kann der Körper so aber weniger Vitamin D produzieren. Afroamerikaner in den USA oder türkischstämmige Deutsche haben deswegen im Schnitt niedrigere Vitamin-D-Spiegel als der Rest der Bevölkerung. Peto ist überzeugt: Vitamin D muss einen Effekt auf das Überleben gehabt haben, sonst hätte die Hautfarbe sich im Laufe der Generationen nicht geändert.

Einige Forscher, wie der Endokrinologe Michael Holick von der Boston University School of Medicine plädieren deshalb dafür, mehr Lebensmittel mit Vitamin D zu versetzen. „Wenn auch nur eine einzige dieser Krankheiten tatsächlich von Vitamin D verhindert wird, dann ist es das wert“, sagt er. Michael Amling vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sieht das ähnlich. „Am besten wäre es, Brot mit Vitamin D anzureichern“, sagt er. „Ein 80-Jähriger isst genauso viel Brot wie ein 18-Jähriger.“

Forscher warnen vor zu viel Überschwang

Doch andere Forscher mahnen zur Vorsicht. Nicht alle Vorteile von Vitamin D seien bewiesen, und Vitamin D in Pillen oder Lebensmitteln könnten der Gesundheit immer noch mehr schaden als nützen, warnen sie. JoAnn Manson, Endokrinologin an der Harvard Medical School, glaubt, dass die vorhandenen Daten den Enthusiasmus nicht rechtfertigen: „Es gibt viele Gründe, warum niedrige Spiegel von Vitamin D mit chronischen Krankheiten zusammenhängen könnten.“ Manson war Teil einer Arbeitsgruppe, die 2010 im Auftrag des Institute of Medicine (IOM), einem Gremium der Nationalen Akademien der Wissenschaften der USA, hunderte Studien durchging. Das Fazit: Vitamin D sei wichtig für gesunde Knochen, aber bisher gebe es keine Beweise, dass es auch vor anderen Krankheiten schütze. „Massenmedikation ist nichts, das man leichtfertig beginnen sollte“, sagt selbst Julian Peto. Und er fügt hinzu: „Was wir bisher wissen, kommt vor allem aus Beobachtungsstudien.“

Die haben ihre Tücken. Meist vergleichen Forscher in solchen Studien zwei Gruppen, etwa Menschen mit einem hohen und Menschen mit einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel. Dabei zeigt sich zwar immer wieder, dass kranke Menschen weniger Vitamin D in ihrem Blut haben. „Aber das könnte zum Beispiel auch daran liegen, dass diese Menschen weniger Sport machen und damit weniger an der freien Luft sind“, sagt Andrew Grey von der Universität Auckland in Neuseeland. Hinzu kommt, dass Vitamin D fettlöslich ist und sich deshalb im Fettgewebe ansammelt. Übergewichtige haben daher meist weniger Vitamin D im Blut. Zu wenig Vitamin D sei nicht Ursache sondern Symptom schlechter Gesundheit, sagt Grey.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Vitaminfans enttäuscht werden. Vor Jahren glaubten Forscher, dass Betakarotin, eine Vorstufe von Vitamin A, den Körper vor krebserregenden Stoffen wie den Substanzen in Tabak abschirmt. Doch in einer finnischen Studie an fast 30 000 Rauchern erkrankten nicht weniger, sondern mehr Teilnehmer, die Betakarotin genommen hatten, an Lungenkrebs. Als die Studie 1994 beendet wurde, waren in der Vitamingruppe acht Prozent mehr Menschen gestorben. Eine ähnliche Studie in den USA musste zwei Jahre später abgebrochen werden. In der Gruppe, die Betakarotin bekam, gab es 28 Prozent mehr Fälle von Lungenkrebs und 17 Prozent mehr Tote. Und eine Studie, die Vitamin E und Selen untersuchte, musste 2008 abgebrochen werden, weil die Teilnehmer, die Vitamin E genommen hatten, häufiger an Prostatakrebs erkrankten. „Ich glaube, Vitamin D wird genau so enden wie diese anderen Behandlungen“, sagt Grey. Amling hält dagegen, der Vergleich hinke, da Vitamin D eher als Hormon zu sehen sei.

Nur klinische Studien, bei denen Teilnehmer über Jahre entweder Vitamin D oder eine Placebopille erhalten, können eine sichere Antwort liefern – und die sind nun im Gange. JoAnn Manson etwa hat in Harvard dieses Jahr die Vital-Studie begonnen, an der 20 000 gesunde US-Amerikaner teilnehmen. Fünf Jahre lang erhalten sie jeden Tag 2000 Internationale Einheiten (IU) Vitamin D oder eine Placebopille ohne Wirkstoff. Ähnliche Studien laufen in Finnland, Neuseeland und der Schweiz an. Eine weitere ist in Großbritannien geplant.

Der Aufwand ist enorm, denn Präventionsstudien sind schwierig. Sie müssen sehr viele Teilnehmer haben und eine lange Zeit laufen, denn genug Menschen müssen eine Krankheit bekommen, um einen Unterschied zwischen den beiden Gruppen zu sehen. Deshalb sind Präventionsstudien auch teuer. Die Vital-Studie etwa kostet die amerikanische Gesundheitsbehörde 30 Millionen Dollar. Hinzu kommt, dass Teilnehmer leicht vergessen könnten, die Pillen regelmäßig einzunehmen, schließlich haben sie keine Krankheit, die sie behandeln müssen. Sollten viele Menschen die Pillen nicht regelmäßig einnehmen, würde es noch schwerer werden, einen Unterschied zur Kontrollgruppe festzustellen.

Möglicher Nutzen bei hohem Blutdruck und Darmkrebs

Trotzdem führt an diesen Studien kein Weg vorbei, sagt Heike Bischoff-Ferrari von der Universität Zürich. Die Wissenschaftlerin leitet die DoHealth-Studie, die zurzeit in acht europäischen Städten mehr als 2000 Über-70-Jährige aufnimmt, um den Effekt von Vitamin D auf Brüche und Blutdruck, Infektionen und die geistige Leistungsfähigkeit zu untersuchen. „Ich würde beim Blutdruck, bei den kardiovaskulären Erkrankungen und beim Darmkrebs einen Nutzen erwarten“, sagt Bischoff. Aber die Belege seien nicht gut genug , um eine Empfehlung abzugeben. „Dafür braucht es jetzt einfach diese klinischen Studien.“

Bis die gegen Ende des Jahrzehnts abgeschlossen sind, wird weiter darüber gestritten werden, wie viel Vitamin D dem Menschen wirklich nützt. Im IOM-Report haben sich die Forscher erst einmal auf ein Ziel von 50 Nanomol pro Liter Blut festgelegt. (Das entspricht etwa 20 Nanogramm pro Milliliter.) Und auch das Bundesinstitut für Risikobewertung, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und das Max-Rubner-Institut einigten sich vor einigen Wochen auf 50 Nanomol pro Liter als Zielwert.

Vitamin-D-Enthusiasten finden das zu niedrig und verweisen auf prähistorische Zeiten. Ihre Argumentation: Als der Mensch begann, Kleidung zu tragen, sich mit Sonnenmilch einzucremen und jeden Tag viele Stunden in Gebäuden zu verbringen, reduzierte er seinen Vitamin-D-Spiegel dramatisch. Tatsächlich haben holländische Wissenschaftler dieses Jahr eine Studie veröffentlicht, in der sie zwei Stämme in Tansania untersuchten. Mitglieder der Jäger-und-Sammler-Gemeinden in der Nähe des Äquators hatten im Schnitt 115 Nanomol Vitamin D pro Liter. „Das sollten wir wahrscheinlich alle haben“, sagt Holick, der hoch dosierte Vitaminpillen nimmt, um auf 100 bis 150 Nanomol pro Liter zu kommen.

Wieviel Vitamin D der Mensch braucht

Andere zielen nicht ganz so hoch. „Für gesunde Knochen müssen Sie einen Wert von 75 Nanomol pro Liter anpeilen“, sagt Amling. Der Forscher hat 2010 die Knochen und Vitamin-D-Spiegel von 675 Menschen untersucht, die eines unnatürlichen Todes gestorben waren. 82 von ihnen hatten einen Wert über 50 Nanomol pro Liter. Davon hatten sieben dennoch schwache Knochen. „Das heißt, fast zehn Prozent der Menschen mit einem Serumlevel über diesem Wert haben schwache Knochen“, sagt Amling.

Höhere Blutwerte von Vitamin D könnten aber auch schaden, warnt Clifford Rosen, einer der Autoren des IOM-Berichts. „Mit 75 Nanomol pro Liter kann ich noch leben, aber darüber mache ich mir Sorgen“, sagt er. Er beruft sich unter anderem auf eine australische Studie von 2010, in der Frauen über 70 einmal im Jahr eine Megadosis von 500 000 Einheiten bekamen. Vitamin D in ihrem Blut kletterte unmittelbar danach auf etwa 120 Nanomol pro Liter, aber die Frauen fielen auch häufiger hin und brachen sich häufiger die Knochen als die Placebogruppe, berichteten die Wissenschaftler.

Doch selbst 50 Nanomol pro Liter erreichen laut DGE nur 40 Prozent der Deutschen. Im Sommer würden einige Minuten in der Mittagssonne dafür reichen. „Aber im Winter haben Jung und Alt in ganz Europa wenig Chance, das über die Sonne allein zu erreichen“, sagt Bischoff. „Da müsste man schon nach Marokko gehen.“ Um auf Nummer sicher zu gehen, empfiehlt sie Vitaminpräparate: 800 IU für Menschen über 60, 600 IU für jüngere. In jedem Fall sei es sinnvoll, erst einmal alle Menschen auf 50 Nanomol pro Liter zu bekommen, sagt Bischoff. „Das ist die eine Sache, auf die sich wirklich alle einigen können.“

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