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Keine Geborgenheit. Die eng gepackten Laken, in die dieses autistische Kind gewickelt ist, sind kalt, nicht warm.

© LookatSciences/laif

Kritik an Autismus-Therapien: In nasse Tücher gewickelt und festgehalten

"Le packing" nennen französische Psychoanalytiker eine zweifelhafte Methode, mit der sie autistische Kinder und Jugendliche behandeln. Scharf kritisiert wird auch das stundenlange Umklammern der Betroffenen, die so zur Ruhe gebracht werden sollen.

Nasse kalte Tücher, die direkt aus dem Kühlschrank kommen. Das nackte oder nur mit Unterwäsche bekleidete Kind wird damit umwickelt, zuerst der Bauch, dann Arme und Beine. Darüber wird eine Schicht trockener Laken platziert, zuletzt eine Lage wasserundurchlässigen Materials und einige warme Decken. Nach einer Minute ist das „Paket“ fertig, der kleine Patient, der in der dicken Hülle steckt, kann sich langsam aufwärmen.

Ungefähr eine Dreiviertelstunde dauert die Behandlung, die erzwungene Ruhe wird teilweise für ein psychotherapeutisches Gespräch genutzt. „Le Packing“ heißt die Methode, die von Kinderpsychiatern wie Pierre Delion vom Centre Hospitalier Régional Universitaire in Lille zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit schweren Ausprägungen von Autismus, aber auch mit psychotischen Symptomen und Magersucht empfohlen wird.

Nach Frankreich kam sie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Kreation von Psychoanalytikern und Hydrotherapeuten um den Amerikaner Michael Woodbury. Heute soll sie dort in 200 Kliniken und anderen Einrichtungen angewendet werden. Ihre Verfechter sprechen ihr nicht nur eine entspannende, entkrampfende Wirkung zu, sie möchten darüber hinaus den Heranwachsenden das fehlende Gefühl für ihre körperliche Ganzheit zurückgeben. Vor allem selbstverletzendes Verhalten könne geheilt werden, berichtet Delion.

„Die Packing-Therapie ist absolut unmenschlich und muss unbedingt aufhören“, sagt dagegen die schwedische Kinderärztin Elisabeth Fernell vom Karolinska-Institut in Stockholm. Gegen die Therapie kämpft seit Jahren auch die französische Elternvereinigung „Association Léa pour Samy“. Im Februar 2011 wandten sich zudem namhafte amerikanische und britische Autismus-Experten in einem Papier gegen die Methode.

Durch den Streit um die Ausstrahlung des 52-Minuten-Dokumentarfilms „Le Mur“ (Die Mauer) der Französin Sophie Robert hat der Streit nun an Aktualität gewonnen. Vor kurzem haben drei von ihr interviewte Psychoanalytiker und Kindertherapeuten, die sich im Film tendenziös dargestellt fühlten, vor einem Gericht in Lille recht bekommen. Der Film darf in Frankreich allenfalls in einer Version ausgestrahlt werden, die um diese Passagen gekürzt ist. Die Filmemacherin will Widerspruch einlegen.

Diese Vorgehensweise kann zu einer Zunahme aggressiver Gefühle und Handlungen führen

Die Analytiker, die im Film zu Wort kommen, sehen die Ursache für Autismus in einer frühkindlichen Störung der Elternbindung, vor allem einer gleichzeitig „kalten“ und besitzergreifenden Mutter. In der Therapie komme es darauf an, das Kind von der Mutter zu trennen und in einen frühen Bewusstseinszustand zurückzuversetzen. In den Augen von Pierre Delion ist „Le Packing“ eine Methode, die diesem Ziel dienen kann.

Für eine „Schuld“ der Mutter an der Erkrankung des Kindes liefert die seriöse Forschung allerdings keine Anhaltspunkte. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die in den ersten drei Lebensjahren beginnt und sich im sozialen Umgang, in Kommunikationsproblemen und in sich stets wiederholenden Handlungen bemerkbar macht. Nach heutigem Verständnis liegt dem eine gestörte Wahrnehmungsverarbeitung zugrunde. Sie hat genetische Grundlagen, die sich in der Gehirnentwicklung niederschlagen. In der Behandlung werden heute vor allem Programme zur individuellen Frühförderung wie die „Applied Behaviour Analysis“ eingesetzt, die sich an den Eigenheiten des Patienten orientieren.

„Über eine Anwendung von ,Le packing’ in Deutschland ist mir glücklicherweise bislang nichts zu Ohren gekommen“, sagt der Psychiater und Autismus-Experte Matthias Dose vom Isar-Amper-Klinikum, Klinik Taufkirchen. Er und seine Kollegen kritisieren eine andere Methode, mit der schwierige Kinder mit verschiedenen Störungen ebenfalls gezielt bewegungsunfähig gemacht werden: Die „Festhaltetherapie“, bei der die Heranwachsenden stundenlang mit Gewalt auf dem Schoß umklammert oder auf den Boden gedrückt werden. Sie basiert auf dem „forced holding“ der amerikanischen Kinderpsychiaterin Martha Welch und wurde in Deutschland durch die Bücher der tschechischen Psychologin Jirina Prekop („Der kleine Tyrann“ und „Hättest du mich festgehalten“) bekannt. Der Bundesverband Autismus Deutschland kritisiert in seiner Denkschrift Autismus, „Forced holding“ setze sich über den Widerstand autistischer Kinder hinweg. „Diese Vorgehensweise kann zu einer Zunahme aggressiver Gefühle und Handlungen des gewaltsam gehaltenen Kindes führen“.

Parallelen zu „Le Packing“ drängen sich auf. Immer wieder melden sich auf französischen Internetseiten Eltern zu Wort, die die Behandlung als grausam empfinden. Im Papier der internationalen Wissenschaftlergruppe wird zudem hervorgehoben, dass sie nicht durch Studien gestützt ist. Das Resümee der Mediziner: „Wir sind uns einig, dass Ärzte und Familien in aller Welt diesen Zugang als unethisch betrachten sollten.“

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