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80.000 Tonnen Plastik treiben im so genannten Großen Pazifischen Müllstrudel.

© imago images/Ardea

Artenvielfalt auf Müllinseln: Mit der Zahnbürste in den Pazifik

In den riesigen Strudeln aus Plastikmüll entsteht neuer Lebensraum: Etliche Organismen stammen von der Küste und pflanzen sich nun auf hoher See fort.

Von Alice Lanzke, dpa

Plastikmüll auf offener See bildet die Heimat für eine neue Form von Lebensgemeinschaften, die man hier eigentlich nicht vermuten würde: Auf dem Kunststoff-Treibgut gedeihen neben verschiedenen Meeresspezies auch Küstenarten, die sich sogar fortpflanzen und so über Jahre überleben können.

Eine Studie im Fachblatt „Nature Ecology & Evolution“ zeichnet nun ein genaueres Bild von der Zusammensetzung dieser Gemeinschaften. Die Forscherinnen fischten dafür über hundert Plastikteile aus einem sogenannten Müllstrudel im Pazifischen Ozean.

Solche Müllstrudel oder Plastikwirbel im offenen Meer entstehen, wenn Oberflächenströmungen die Plastikverschmutzung von den Küsten in Regionen treiben, in denen rotierende Strömungen die schwimmenden Objekte einfangen. Weltweit gibt es mindestens fünf solcher mit Plastik verseuchter Wirbel.

80.000
Tonnen Plastik treiben im so genannten Großen Pazifischen Müllstrudel.

Der ausgedehnteste ist der Nordpazifikwirbel zwischen Hawaii und Kalifornien, der auch als Großer Pazifischer Müllstrudel bekannt ist. Auf einer Fläche, die mehr als viermal so groß wie Deutschland ist, sollen einer 2018 veröffentlichten Studie zufolge knapp 80.000 Tonnen Plastik treiben.

Krebse, Muscheln, Seepocken und andere Tiere sowie Pflanzen

Meeresbiologin Linsey Haram vom US-amerikanischen Smithsonian Environmental Research Center (SERC) zeigte schon 2021, dass dieser Plastikmüll überraschende Bewohner beherbergt: So fand die Wissenschaftlerin auf den Kunststoffteilen Krebse, Muscheln, Seepocken und andere Tiere sowie Pflanzen, die eigentlich nur in Küstengebieten vorkommen.

Derartige Lebewesen finden zwar teilweise auch auf natürlichem Treibgut wie Pflanzenresten oder Bimsgestein den Weg ins offene Meer – solche Flöße lösen sich anders als Kunststoff allerdings relativ schnell auf oder werden von Meerestieren gefressen, weswegen die Küstenbewohner nur selten die hohe See überqueren.

Als ein Ausnahmeereignis wirkte hier beispielsweise der verheerende Tsunami, der Japan im März 2011 traf: In den sechs Jahren danach wurden Plastiktrümmer an die Küsten Nordamerikas und Hawaiis gespült, auf denen sich über 380 lebende japanische Küstenspezies tummelten.

Haram führte nun zwischen November 2018 und Januar 2019 eine erneute Expedition mit dem Ocean Voyages Institute durch, einer gemeinnützigen Organisation, die auf Segelexpeditionen Plastikmüll einsammelt. In deren Verlauf fischte das Team um Haram 105 schwimmende Kunststoffstücke aus dem östlichen Teil des Nordpazifikwirbels, darunter Seile, Kanister, Flaschen, Zahnbürsten und Netze.

484
wirbellose Meeresorganismen auf dem Plastik-Treibgut identifizierten die Forschenden auf dem Plastik-Treibgut.

Die folgende Analyse des Mülls ergab, dass sich auf über 70 Prozent davon Arten fanden, die eigentlich Küstenregionen bewohnen, unter ihnen viele verschiedene Moostierchen (Bryozoa), Nesseltiere (Cnidaria), zwei Muschelarten (Bivalvia) und eine Vielzahl unterschiedlicher, an Küsten lebende Seeanemonen-Arten (Actiniaria).

Die Forschenden fanden Hinweise auf sexuelle Fortpflanzung

Insgesamt identifizierten die Forschenden 484 wirbellose Meeresorganismen auf dem Plastik-Treibgut, von denen 80 Prozent Arten waren, die normalerweise in küstennahen Lebensräumen vorkommen. Die Zahl der an der Küste lebenden Arten wie Krebstiere und Mollusken, die auf dem Plastik gefunden wurden, war dabei mehr als dreimal so hoch wie die der pelagischen Arten, die normalerweise im offenen Meer leben. Die größte Vielfalt an Organismen insgesamt wurde auf Kunststoffseilen festgestellt, während Fischernetze die größte Vielfalt an Küstenarten beherbergten.

Zudem fanden die Studienautorinnen sowohl bei den Küsten- als auch den Hochseearten Hinweise auf sexuelle Fortpflanzung, so bei Hydrozoen (Hydrozoa), die wie Quallen und Korallen zum Stamm der Nesseltiere gehören, und bei verschiedenen Krebstierarten (Crustacea). Noch dazu würden sich viele Küstenarten ungeschlechtlich vermehren, was ein langfristiges Überleben auf hoher See erleichtern könnte.

Für die Wissenschaftlerinnen entstehen so „neopelagische“ Lebensgemeinschaften, eine Wortschöpfung, bei der „neo“ für „neu“ und „pelagisch“ für den offenen Ozean im Gegensatz zur Küste steht. Sie fassen zusammen: „Küstenarten mit einer Reihe von biologischen Merkmalen können im offenen Ozean überleben, sich fortpflanzen und komplexe Populations- und Gemeinschaftsstrukturen bilden.“

Entsprechend könnte die „Kunststoffsphäre“ diesen Arten außergewöhnliche neue Möglichkeiten bieten, ihre Populationen auf den offenen Ozean auszudehnen um „zu einem dauerhaften Bestandteil der pelagischen Gemeinschaft zu werden“. Denkbar wären in der Folge grundlegende Veränderungen der ozeanischen Ökosystemprozesse. Wie diese Veränderungen genau aussehen könnten und ob sich ähnliche Beobachtungen auch in anderen Ozeanwirbel-Systemen anstellen lassen, müsse allerdings noch erforscht werden.

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