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Leben mit Kindern: Zeit, Geld und eine verlässliche Betreuung

Die Geburtenrate in Deutschland ist niedrig. Eine Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Nationalakademie Leopoldina hat sich Gedanken darüber gemacht, wie die Familie wieder an Wertschätzung gewinnen kann.

Kinder bekämen die Leute doch sowieso: Mit diesem Argument hat sich einst Konrad Adenauer gegen gezielte bevölkerungspolitische Aktivitäten ausgesprochen. Der Babyboom der Nachkriegsjahrzehnte war geeignet, Politiker in dieser Gelassenheit zu bestärken. Doch inzwischen ist die Geburtenrate in Deutschland seit Jahrzehnten niedrig, der demografische Wandel ist zum Dauerbrenner-Thema aufgeregter Debatten avanciert. In aller Stille haben sich auch Wissenschaftler der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina damit beschäftigt. Die Ergebnisse des Projekts „Zukunft mit Kindern – Fertilität und gesellschaftliche Entwicklung“, das von der Jacobs-Stiftung mit 1,25 Millionen Euro gefördert wurde, wurden am gestrigen Montag in Berlin vorgestellt.

Wie es sich für gute Wissenschaftler gehört, räumen die Bevölkerungswissenschaftler, Familienforscher, Soziologen, Psychologen, Mediziner und Ökonomen zunächst mit einigen Mythen auf. Überhaupt nicht bewiesen sei zum Beispiel, dass die Fruchtbarkeit der Menschen, speziell die Qualität der männlichen Spermien, in den letzten Jahrzehnten umweltbedingt abgenommen habe. Wer die hohe Kinderlosigkeit beklage, müsse zudem bedenken, dass in Europa erst im späten 19. Jahrhundert zwei bis drei Kinder einer Frau überlebten.

Das Ausmaß der Kinderlosigkeit bei sehr gut ausgebildeten Frauen werde zudem aufgrund fehlender präziser Daten häufig überschätzt. Tatsache sei, dass 28 Prozent der Akademikerinnen des Jahrgangs 1965 kinderlos geblieben sind, also deutlich mehr als die durchschnittlichen 22 Prozent in den alten und zehn Prozent in den neuen Bundesländern. „In den Bereich der Mythen gehört aber die Aussage, die geringen Geburtenraten seien eine Folge der weiblichen Erwerbstätigkeit“, sagte Günter Stock, Präsident der BBAW und Sprecher der Arbeitsgruppe. Länder wie Schweden und Frankreich widerlegten das.

Sorgen macht den Forschern die irrige Vorstellung, in einer langlebigen und fortpflanzungsmedizinisch gut aufgestellten Gesellschaft ticke die biologische Uhr langsamer, der Kinderwunsch lasse sich also, prominenten Vorbildern folgend, über das 40. Lebensjahr hinaus beliebig aufschieben. Viele überschätzen die künstliche Befruchtung: Die Chancen, nach einer In-vitro-Fertilisation ein Kind zu bekommen, liegen pro Embryotransfer bei knapp 20 Prozent, mit zunehmendem Alter deutlich niedriger.

Einzelvorschläge, wie die Geburtenrate erhöht werden könnte, will die Arbeitsgruppe dagegen bewusst nicht vorlegen. Erstens würden sie als solche ohnehin nicht funktionieren, wie die Familien- und Bildungsökonomin Katharina Spieß vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin erläuterte. Zweitens dient den Wissenschaftlern das Wohlbefinden von Familien, nicht deren Größe als Maßstab. Dass kinderreiche Gesellschaften automatisch auch kinderfreundliche sind, ist nämlich ein weiterer Mythos, den die Forscher entkräften.

Um das Lebensglück von Familien zu erhöhen, plädieren sie für Maßnahmen, die Eltern in der „Rushhour des Lebens“ mehr Luft verschaffen. Als Erweiterung des „Gender Mainstreaming“ empfehle sich in unserer Gesellschaft dafür ein „Familien-Mainstreaming“.

Moderne Familienpolitik erfordere eine intelligente Kombination aus flexiblen Lebenszeitmodellen, guten Betreuungs- und Bildungseinrichtungen und finanzieller Entlastung von Familien. Die staatlichen Transferleistungen, die es heute schon gebe, könnten langsam aber sicher in eine Grundsicherung für Kinder überführt werden, erläuterte der Soziologe und Familienforscher Hans Bertram.

Dass Frauen in den deutschsprachigen Ländern in absehbarer Zeit im Schnitt wieder mehr als zwei Kinder bekommen werden, halten die Forscher für unwahrscheinlich. Die Geburtenrate könne allerdings deutlich steigen, wenn es gelinge, Hindernisse zu beseitigen, die heute zwischen Wunsch und Wirklichkeit die Fruchtbarkeitslücke klaffen lassen. Einen Graben, dessen wirkliches Ausmaß wissenschaftlich zwar schwer zu ermitteln ist, der in der Biografie des Einzelnen aber mit einem großen Maß an Unglück verbunden sein kann.

Adelheid Müller-Lissner

Eine Broschüre der Studie kann unter www.zukunft-mit-kindern.eu heruntergeladen werden.

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