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MATHEMATIK IM ALLTAG – TEIL 4: Die Reiseformel: Viren auf Weltreise

Vor 600 Jahren legte die Pest am Tag lediglich zwei Kilometer zurück. Heute sind Krankheitserreger mit dem Flugzeug unterwegs. Forscher untersuchen, wie Mikroben sich ausbreiten und Geld zirkuliert

Haste mal ’nen Euro aus Spanien? Oder aus Italien? Vermutlich nicht. Nach wie vor findet man im Portemonnaie viel seltener als erwartet Euromünzen, die den spanischen König oder den Vitruv-Menschen Leonardo da Vincis auf der Rückseite zeigen. Die unterschiedlichen Münzen aus den europäischen Ländern haben sich seit der Währungsumstellung vor sechs Jahren immer noch nicht richtig durchmischt. Zwar wagte der Statistikprofessor Dietrich Stoyan aus Freiberg damals die Prognose, binnen eines Jahres würden sich die Münzen in ganz Europa gleichmäßig verteilt haben. Das aber ist bis heute nicht einmal annähernd der Fall. Der Ausländeranteil ist gering.

Münzen werden von Mensch zu Mensch weitergereicht. Die Wanderbewegungen des Euro spiegeln daher das Reiseverhalten der Europäer wider. Erst die Kenntnis der Reisegewohnheiten erlaubt Rückschlüsse darauf, wie Geld zirkuliert. Sie ermöglicht außerdem Vorhersagen darüber, wie sich Grippeviren und andere Krankheitskeime verbreiten.

Mit einer gefährlichen Grippewelle muss die Weltgemeinschaft, statistisch gesehen, etwa alle 20 bis 40 Jahre rechnen. Grippeviren verändern sich rasch. Wenn sich die Eiweißstoffe auf ihrer Zelloberfläche neu ordnen, können lebensbedrohliche Mutanten entstehen. Der „Spanischen Grippe“, die von 1918 an in zwei Wellen um den ganzen Globus lief, fielen mindestens 20 Millionen Menschen zum Opfer. Zur letzten großen Influenza-Epidemie kam es 1968. Zirka 800 000 Menschen starben während der „Hongkong-Grippe“.

Folgenschwer: Die Viren finden ihre Opfer immer schneller. Forscher der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore in den USA haben den täglichen Flugverkehr zwischen 52 ausgewählten Großstädten der Welt analysiert. Das Hongkong-Grippevirus würde demnach heutzutage in deutlich kürzerer Zeit von Kontinent zu Kontinent ziehen, die Grippe fast doppelt so schnell ihren Höhepunkt erreichen wie noch Ende der 60er Jahre. Für Abwehrmaßnahmen und Impfungen bleibt in einer stärker vernetzten Welt immer weniger Zeit.

„Die Reisegewohnheiten haben sich stark verändert“, sagt Theo Geisel, der gemeinsam mit seinen Kollegen vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen herauszufinden versucht, wie Krankheitskeime um die Welt jetten. Ein Beispiel, über das er vor einiger Zeit im Berliner Magnus-Haus sprach, ist die Pest, die wohl schlimmste Seuche im 14. Jahrhundert. „Innerhalb von drei Jahren breitete sie sich von Italien bis nach Norwegen aus.“ Etwa jeder fünfte Europäer fiel ihr damals zum Opfer.

Die Pest wanderte damals mit einer fast gleichmäßigen Geschwindigkeit von etwa zwei Kilometern pro Tag von Süden nach Norden. Nur in den Alpen oder in dünn besiedelten Gegenden wie in den Seengebieten rund um Berlin kam sie langsamer voran. Ihr Weg lässt sich im Rückblick mit vergleichsweise einfachen mathematischen Mitteln beschreiben. Es handelt sich um einen gewöhnlichen Diffusionsprozess, wie wir ihn aus vielen Alltagssituationen kennen. Tropft etwa Tinte in ein Wasserglas, durchziehen die Farbmoleküle nach und nach die gesamte Flüssigkeit.

Ein instruktives Beispiel ist auch ein hüpfender Floh: Wenn sich ein Floh mit jedem Sprung in dieselbe Richtung bewegt, dann wächst die Strecke, die er zurücklegt, linear mit der Zeit an. Sie ist proportional zur Hüpfdauer. Was aber, wenn sich die Richtung mit jedem Sprung ändern kann?

Bei einem solchen, vom Zufall bestimmten Zickzackkurs muss man das Vorwärtskommen des Flohs statistisch beschreiben. Er entfernt sich langsamer vom Ausgangspunkt, mal mehr in die eine, dann in eine andere Richtung. Statistisch betrachtet, ist der zurückgelegte Abstand dann nur noch proportional zur Wurzel aus der Hüpfzeit.

Offensichtlich ähneln unsere heutigen Reisegewohnheiten allerdings nur noch grob denen der Reisenden im Mittelalter. Und anders als hüpfende Flöhe, können wir zwischendurch riesige Sprünge machen.

Mit der Bahn kommen wir in wenigen Stunden von Berlin nach Frankfurt oder Köln, mit einem Linienflug sind wir im Nu in New York oder Tokio. Die Geldmünzen und Grippeviren reisen mit. Ihre Ausbreitung genügt nicht mehr den mathematischen Gesetzen einer schlichten Diffusion. Stattdessen kommt es zu einer Art „Superdiffusion“.

Um diese großen Sprünge und die damit verbundene Ansteckungsdynamik genauer zu verstehen, haben Geisel und sein Team den Flugverkehr zwischen den 500 größten Flughäfen der Welt verfolgt und dabei mehr als zwei Millionen Flüge pro Woche in Rechnung gestellt.

Auf diese Weise gelang es ihnen, die Ausbreitung der Lungenerkrankung Sars im Jahr 2003 nachzuzeichnen. Entscheidend für die rasche Verbreitung waren bestimmte Knotenpunkte im Flugnetz wie Frankfurt, London oder New York. „Wir konnten zeigen, dass der Versuch, eine Epidemie durch Isolation der zentralen Knoten einzudämmen, viel versprechend ist, während eine Blockade der stärksten Verbindungslinien kaum einen Effekt hat“, sagt Geisel.

Das größere Problem besteht jedoch darin vorherzusagen, wie sich die Krankheiten von den Flughäfen aus weiter verbreiten. Eine verrückte Internetgemeinde half den Forschern auf die Sprünge. „Where’s George?“ heißt ein beliebtes Internetspiel in den USA, in dem es darum geht zu beobachten, wie einzelne Dollarnoten von Ort zu Ort wandern – und mit ihnen das Bild George Washingtons. Als Mitspieler gibt man die Seriennummer des Geldscheins ein und den momentanen Aufenthaltsort. Just for Fun, nur so aus Spaß.

„Die Internetseite ist mittlerweile so populär, dass etwa 80 Millionen Geldscheine registriert sind“, sagt Dirk Brockmann. Für den Wissenschaftler am Göttinger Max-Planck-Institut ist diese Datenmenge ein Schatz. Denn die Angaben lassen Rückschlüsse auf das Reiseverhalten der Amerikaner zu.

Für die Wissenschaftler gab es dabei einige Überraschungen. Die Zirkulation der Dollarnoten lässt sich mit Hilfe von nur zwei Parametern zuverlässig beschreiben: der Sprunglänge, dem Weg, den eine Dollarnote im Durchschnitt zurücklegt, ehe sie den Besitzer wechselt, und der mittleren Verweildauer des Dollars an einem Ort.

Wie sich herausstellte, verweilen die Dollarscheine gern. Geldscheine in den USA zeigen demnach eine ähnliche Tendenz, lange in ein und derselben der Region zu bleiben, wie der Euro. Das Geld ist „klebriger“ als gedacht.

„Es gibt einen Wettlauf zwischen langen Sprüngen und langen Wartezeiten“, sagt Brockmann. Daher muss auch das mathematische Modell der „Superdiffusion“, das die plötzlichen großen Sprünge berücksichtigt, noch einmal modifiziert werden.

Die Übertragung auf Euroland ist noch einmal ein Kapitel für sich. Denn das Reiseverhalten in der EU ist noch schwerer zu modellieren als in den USA. „In Europa gibt es zusätzliche kulturelle Barrieren.“ Den traditionell engen Verbindungen zwischen den skandinavischen Ländern oder zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz steht ein eher mäßiger Reiseverkehr zwischen einigen anderen Ländern gegenüber.

Der Stochastiker Dietrich Stoyan hat dafür inzwischen ein eigenes Modell mit „Sympathiewerten“ für die jeweiligen Länderpaare entwickelt. Er verfolgt die Diffusion der Geldmünzen anhand von stichprobenartigen Auszählungen, die regional sehr verschieden ausfallen.

In Freiberg ist der Ausländeranteil unter den Eineuromünzen demnach deutlich geringer als in Düsseldorf. Stoyan schätzt, dass inzwischen etwa jeder vierte Euro in Deutschland aus dem Ausland zugewandert ist. „2020 werden nur noch etwa 50 Prozent der Eineuromünzen deutsche sein.“

Seinen Kopf würde er auch für diese Prognose nicht hinhalten. Vor allem die Reisegewohnheiten seien mathematisch schwer zu fassen. Ohne eine entsprechende Analyse wird man aber auch das mögliche Ausmaß drohender Pandemien nur schwer abschätzen können. Besser, wir sind gut vorbereitet, wenn es soweit ist.

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