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Mathematik: „Mathematik ist eine Kulturleistung“

Günter M. Ziegler über Kopfrechnen, weltfremde Kollegen und den Nutzen der Geometrie im Alltag.

Herr Ziegler, zuerst will ich testen, ob Sie überhaupt Mathematik können.

Okay.

Wie viel ist 78 mal 43?

Das ist ja Rechnen! Im Kopfrechnen war ich nie besonders stark. Das ist auch nicht typisch für Mathematiker.

Wenn jemand im Kopf sechsstellige Zahlen multiplizieren kann, gilt er doch als Rechengenie.

Das ist aber etwas anderes. Rechnen ist auch wichtig, und es gibt Bereiche der Zahlentheorie, wo die Theorie und das Rechnen sehr nahe beieinander liegen.

Sie rechnen also nicht. Was machen Sie dann? Sie sind Leibnizpreisträger und einer der Spitzenmathematiker in Deutschland.

Ich studiere die Geometrie der Polyeder. Polyeder bestehen immer aus endlich vielen Komponenten, aus Ecken, Kanten, Flächen. Die systematische Beschreibung solcher Strukturen braucht Methoden der diskreten Mathematik. In meinen Arbeiten steckt auch Topologie drin – eine sehr komplizierte Wissenschaft.

Wenn Ihre Mutter fragt, „Junge was machst du eigentlich?“: Können Sie es so erklären, dass sie es versteht?

Ich kann meiner Mutter erklären, worum es geht, aber die schwierigen Details kann sie nicht verstehen. Dass es aber faszinierende geometrische Strukturen sind, das kann ich auch mit Bildern illustrieren. Ich bin jemand, der sehr geometrisch denkt. Ich zeichne dann viel oder starre auf das Holzmodell, das in meinem Büro unter der Decke hängt. Das ist dreidimensional, mich interessieren eigentlich mehr vierdimensionale Polyeder.

Was hat die Menschheit davon, dass Sie sich mit vierdimensionalen Polyedern beschäftigen?

Ich glaube, dass Mathematik und somit auch vierdimensionale Geometrie gewaltige Kulturleistungen sind. Zudem bildet die Theorie der Polyeder die Grundlage für moderne Methoden der Optimierung, lineare und ganzzahlige Verfahren, enorm wichtig für die Anwendung.

Was kann man damit anfangen?

Verfahrensplanung, Optimierung von U-Bahn-Plänen, Logistik, Maschinenbau. Dafür ist lineare Optimierung ein wichtiger Baustein. Diese Methode basiert auf dem Verständnis von Polyedern. Was mich primär an vierdimensionalen Polyedern interessiert, ist aber nicht wichtig für lineare Optimierung.

Sehen Sie sich in erster Linie als Künstler oder als Praktiker?

Ich bin kein Praktiker und arbeite derzeit nicht direkt mit Industrie zusammen. In gewisser Hinsicht ist Mathematik für mich eine Kunst, die mir sehr viel Freude macht. Auf der anderen Seite ist es gut zu wissen, dass man mit dieser Kunst am Ende auch viel Kohle verdienen kann.

Man denkt oft, Mathematiker sind etwas weltfremd. Sitzen in ihrem Zimmer, haben Papier und Stift und denken sich Sachen aus. Letztes Jahr hat der russische Mathematiker Grigorij Perelman die Fields-Medaille, quasi den Nobelpreis für Mathematik, abgelehnt und sich lieber in die Wälder von St. Petersburg abgesetzt.

Das ist, was wir in der Mathematik einen Existenzbeweis nennen. Wir haben bewiesen: es gibt einen Mathematiker, der relativ weltfremd ist. Er macht aber in seiner Studierstube Dinge, die absolut brillant sind und für alle anderen sehr schwer zu verstehen. Nach dem, was ich über Perelman weiß, ist er jemand, den der Normalmensch merkwürdig nennen würde. Das ist auch sicher nicht der einzige merkwürdige Mathematiker. Ich glaube aber nicht, dass er typisch ist.

Die Dichte merkwürdiger Menschen ist bei Mathematikern nicht höher als beispielsweise bei Chemikern oder Ingenieuren?

Vielleicht ein bisschen schon. Mathematik ist eine schwierige Wissenschaft. Wer dort etwas Brillantes leisten will, braucht sehr viel Geduld und Konzentration. Man muss auch mal eine Weile von der Welt weg sein. Deshalb muss man aber nicht weltfremd sein.

Ist Mathematik für Sie eine Art Berufung? Haben Sie mal gedacht, ich könnte auch Schlagzeuger werden?

Mein musikalisches Talent ist begrenzt. Ich habe schon mal ans Germanistikstudium gedacht oder ob nicht die Medizin das Richtige wäre. Ich habe anfangs Physik und Mathematik in München studiert. Dann bin ich nach Amerika gegangen, habe die Physik bleiben lassen und mich in die Mathematik gestürzt. Was ich jetzt mache, das ist mein Traumjob, da ist für mich schon Berufung drin.

Braucht man spezielle Begabung für Mathematik? Oder kann jeder, der einigermaßen intelligent ist, Mathematik machen?

Jeder, der normal denken kann, kann die Mathematik in der Grundschule und im Gymnasium verstehen. Um jedoch Mathematik zu studieren und zu promovieren, braucht man natürlich Begabung.

Wie kommt es, dass Mathematik in der Schule nicht beliebt ist?

Das stimmt so nicht. Wenn man Schüler nach dem Lieblingsfach fragt, wird am häufigsten Mathematik genannt. Wenn man nach dem Horrorfach fragt, nennen sie erst Physik und dann Mathematik.

Warum polarisiert Mathematik so sehr?

Das liegt daran, dass das Bild von Mathematik zu eng ist. Die Leute denken bei der Mathematik vor allem an Bruch- und Prozentrechnung, Kurvendiskussion oder Integrale. Das ist aber nur ein kleiner Teil von dem, was Mathematik ist.

Wie sieht der Rest aus?

Vielfältig, lebensnah, anwendungsreich. Wir müssen ein buntes Bild von Mathematik erzeugen. Die Leute sollten wissen, dass Computeranimation ohne Geometrie nicht geht, wie Wahrscheinlichkeitstheorie und Lotto zusammenhängen, dass Mathematik für Straßenverkehr und Logistik unerlässlich ist.

Wie wollen Sie das erreichen? Gehen Sie in die Schule und erzählen, wie bunt Ihre Mathematik ist?

Ich komme ab und zu gerne in den Unterricht und erzähle, welche Mathematik ich mache. Aber das ist nicht die Lösung des Problems. Die Mathematik in der Schule wird erst dann besser, wenn man den Lehrern selbst, die ja meist sehr engagiert sind, besseres Material gibt. Beispielsweise um zu zeigen, wie viel Mathematik im Wetterbericht steckt.

Ist der Lehrplan nicht schon vollgestopft?

Ja, die Lehrer brauchen mehr Freiräume. Sie hecheln mit dem Stoff hinterher, statt sagen zu können: heute erzähle ich euch etwas Spannendes aus der Mathematik, das steht nicht im Lehrplan, aber es begeistert mich selbst.

Warum haben die deutschen Schüler beim Pisa-Test in Mathematik nur mittelmäßig abgeschnitten?

Das hat viele Gründe. Wir brauchen sicherlich auch mehr Zeit für den Mathematikunterricht, wie es in Ländern mit besseren Pisa-Ergebnissen der Fall ist. Nicht um mehr Stoff zu pauken, sondern um mehr bunte Mathematik zu zeigen.

Ist das ein Ziel des Mathematikjahres?

Wir wollen in dem Jahr Impulse setzen, und bestehende Initiativen stärken. Wir wollen mit konkreten Projekten beispielsweise der Lehrerfortbildung einen neuen Schub geben. Da gibt es tolle Projekte der Deutschen Telekom Stiftung, die jetzt schon prima laufen. Es wird neue Materialien für den Unterricht geben, die am 23. Januar zur offiziellen Eröffnung vorgestellt werden. Wir unterstützen Schülerwettbewerbe, etwa den Känguru-Wettbewerb, an dem letztes Jahr schon 550 000 Schüler in Deutschland teilgenommen haben. Ganz wunderbar und witzig. Er findet dieses Jahr in Deutschland am 10. April statt.

Was wird der normale Bürger vom Jahr der Mathematik mitbekommen?

Wir verbrennen nicht Millionen von Euro für riesige Plakatkampagnen. Wir setzen eher darauf, dass die Medien über die Aktionen des Mathematikjahrs informieren. Zur Eröffnung werden wir ein wunderbares Poster vorstellen, das hoffentlich in jeder Schulaula hängen wird.

Was ist auf dem Poster zu sehen?

Das darf ich Ihnen noch nicht verraten.

Ist Berlin eine Hochburg für Mathematik?

Definitiv. Wenn wir über Mathematik reden, ist Berlin weltweit ganz vorne. Die drei Universitäten, das Weierstraß-Institut sowie das Konrad-Zuse-Institut arbeiten im Forschungszentrum „Matheon“ zusammen. Auch mit der „Berlin Mathematical School“, der Graduiertenschule aus dem Exzellenzwettbewerb, sowie dem Institut für Finanzmathematik „Quantitative Products Laboratory“ ist Berlin für Mathematik eine ganz tolle Adresse.

Wie sind denn die Chancen für Mathematiker?

Exzellent. Genauso wie bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern gibt es auch bei Mathematikern und Mathematiklehrern einen starken Mangel.

Das Gespräch führte Paul Janositz.
Günter M. Ziegler (44), ist Professor für Mathematik an der TU Berlin. Der Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung ist auch Koordinator beim Jahr der Mathematik 2008.

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