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Medizin: Die Dämonisierung der Dicken

Übergewicht gilt als Gefahr für die Gesundheit. Neue Studien stellen diese Ansicht in Frage. Statistisch gesehen kann ein kleines "Pölsterchen" sogar vor einem frühen Tod schützen.

Wir haben es geahnt, nun ist es amtlich: Die Deutschen sind zu dick, jeder Fünfte ist sogar fettleibig. So lautet eines der Ergebnisse der nationalen „Verzehrstudie", die Verbraucherminister Horst Seehofer kürzlich in Berlin vorstellte. Rund 51 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer sind demnach übergewichtig. Millionen Menschen allein in Deutschland sind betroffen. Ein gewichtiges Problem, denn mit den Pfunden, so ist immer wieder und in immer schrilleren Tönen zu lesen, steigt das Risiko für zahlreiche Krankheiten, von Diabetes über Herzleiden bis hin zu bestimmten Krebsarten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO betrachtet die grassierende Fettleibigkeit seit Jahren mit großer Sorge und spricht von einer „globalen Epidemie“. Und warnt: Wer dick ist, stirbt früher.

Wir fressen uns zu Tode – so könnte man die unheilvolle Botschaft in einer Formel zusammenfassen.

Ein genauerer Blick auf die einschlägigen Studien jedoch offenbart ein etwas anderes, differenzierteres Bild vom Übergewicht. Oft lässt sich ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Übergewicht nur mühsam, indirekt oder auch gar nicht aus den Daten herauslesen. Ja, es gibt sogar Hinweise darauf, dass ein gewisses Pölsterchen, statistisch gesehen, vor einem frühen Tod schützt.

Die Probleme mit dem Übergewicht beginnen schon mit der Messung. Offiziell gilt ein Erwachsener als „übergewichtig“, wenn er einen BMI zwischen 25 und 30 hat. „Fettleibig“ sind jene mit einem BMI über 30. BMI, das ist das Kürzel für Body-MassIndex und errechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilo geteilt durch die Körpergröße in Metern. Ein Mann, der 1,76 groß ist und 78 Kilo wiegt, kommt auf einen BMI von 78 geteilt durch 3,1 (1,76 mal 1,76), macht 25,2. Der Mann mit den moderaten Maßen ist also per Definition „übergewichtig“. Das entscheidende Problem des BMI liegt darin, dass er überhaupt nicht berücksichtigt, woraus sich das Körpergewicht zusammensetzt. Als „Mister Universum“ Arnold Schwarzenegger sich in den 1970er Jahren in seiner körperlichen Bestform befand, war er nach heutiger BMI-Definition „fettleibig“. Mit einer Größe von 1,88 und einem Gewicht von 106 Kilo brachte es Schwarzenegger nämlich auf einen BMI von 30.

Aus Sicht des BMI ist es völlig egal, ob sich ein Mensch vornehmlich in Fett oder Muskeln hüllt. Ironischerweise ist Muskelgewebe sogar schwerer als Fett. „Praktisch alle kräftigen Typen, Ringertypen, sind somit übergewichtig“, sagt Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker und Buchautor („Lexikon der populären Ernährungsirrtümer“). Ein Frauenschwarm wie Brad Pitt oder JamesBond-Darsteller Daniel Craig ist nur deshalb übergewichtig, weil es der BMI so will.  „Die Festlegung der Kategorien von normal, übergewichtig und fettleibig sind vollkommen willkürlich“, urteilt auch der Experte Patrick Basham von der Johns-Hopkins-Universität im amerikanischen Baltimore im Fachmagazin „British Medical Journal“ (Band 336, Seite 244).

Ein weiteres Beispiel führt das eindruckvoll vor Augen: Im Juni 1998 legten sich in einer Dienstagnacht mehrere Millionen US-Bürger als Normalgewichtige schlafen, um am nächsten Morgen als übergewichtig aufzustehen. Was war geschehen? Die Regierung hatte gewissermaßen den Gürtel enger geschnallt und die BMI-Definition verschärft: Als übergewichtig galten ab sofort nicht mehr jene, die einen BMI von etwas über 27 haben. Nein, nun galt: Übergewichtig sind alle ab einem BMI von 25. Die Begründung der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA lautete, Studien würden zeigen, dass ab einem BMI von 25 die Gesundheitsrisiken zunehmen.

Gerade das jedoch ist bis heute nicht geklärt – und wird von einigen Experten stark bezweifelt. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass bei starkem Übergewicht das Diabetesrisiko und Herzprobleme zunehmen, doch auch hier lohnt sich ein genauer Blick auf die Daten. So analysierte ein US-Team um Katherine Flegal von den Centers for Disease Control den Gesundheitszustand von 2,3 Millionen Amerikanern, um dem Zusammenhang zwischen Übergewicht und Krankheit näher auf den Grund zu gehen. Die Studie wurde im November 2007 im Fachblatt „Jama“ veröffentlicht (Band 298, Seite 2028). Es zeigte sich, dass mit den Pfunden tatsächlich die Gefahr für Diabetes steigt. Von vielen anderen Krankheiten jedoch bleiben gerade die Übergewichtigen verschont. Ja, wie Flegals Analyse ergab, geht Übergewicht insgesamt sogar mit einem niedrigeren Sterblichkeitsrisiko einher als das angeblich gesündere „Normalgewicht“.

„In der Gruppe der Übergewichtigen sterben in den USA jährlich fast 90 000 Menschen weniger im Vergleich zu den Normalgewichtigen“, berichtete Flegal dem Tagesspiegel. Die Wissenschaftlerin vermutet, dass einige Extra-Energiepölsterchen hilfreich sein können, Krankheiten oder Operationen besser zu überstehen. Außerdem: Erhöhtes Gewicht ist oft eben nicht einfach mit einem Speckgürtel gleichzusetzen, sondern mit mehr Muskelmasse. Also auch eher mit, zum Beispiel, einem „starken“ Herzen.

Flegals Studie ist kein Einzelbefund. Als ein Forscherteam der Mayo-Klinik in den USA vor zwei Jahren in einer Übersichtsstudie 40 Untersuchungen zum Thema Übergewicht und Herzkrankheit analysierte, stellten die Experten fest: Sowohl die Übergewichtigen als auch die Fettleibigen unter den Herzkranken haben ein geringeres Gesamtsterblichkeitsrisiko als Normalgewichtige. Nur bei den Allerdicksten war dieses Risiko erhöht, allerdings lange nicht so hoch wie bei den Untergewichtigen (Graphik 1).

Einen Teil der Erklärung sehen die Forscher in der Schwäche des BMI. „Die Unfähigkeit des BMI zwischen Fett- und Muskelgewebe zu unterscheiden, ist mit Sicherheit eine plausible Erklärung für das bessere Abschneiden der Übergewichtigen und leicht Fettleibigen“, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt „Lancet“ (Band 368, Seite 666). „Dicke Menschen leben länger“, fasst Udo Pollmer die paradoxen Befunde zusammen. „Untergewicht ist das wahre Problem.“ Andere Experten sind allerdings skeptisch. „Ich kann nicht viel Positives im Übergewicht erkennen“, urteilt zum Beispiel Heiner Boeing vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. Er meint allerdings auch, dass gerade im hohen Alter ausreichend Muskelmasse sehr wichtig ist.

Vieles deutet darauf hin, dass es im Alter der Gesundheit nicht sonderlich schadet, wenn man etwas mehr auf den Rippen hat. Entscheidend ist offenbar etwas anderes. So verfolgte der Ernährungsforscher Steven Blair von der Universität von South Carolina über zwölf Jahre das Schicksal von gut 2600 Menschen über 60. Seine im Fachblatt „Jama“ (Band 298, Seite, Seite 2507) erschienene Studie zeigte: Weder Übergewicht noch Fettleibigkeit sagen einen frühen Tod voraus.

Wichtiger in dieser Hinsicht war die Frage, wie fit die Leute waren. Wer sich regelmäßig bewegte, der hatte nicht nur bessere Blutdruck- und Cholesterinwerte, sondern wurde auch – unabhängig vom Körpergewicht – älter. „Ich will nicht wie ein Verteidiger der Fettsucht klingen“, sagt Blair. „Aber bei älteren Menschen ist sie nicht so ein wichtiger Sterblichkeitsfaktor wie bei jüngeren.“ Ein Großteil der Dicken, auch das hat die Verzehrstudie herausgebracht, geht auf das Konto der Alten – auf jene Gruppe also, die die Extra-Pfunde besser zu vertragen scheint. „Jedes Säugetier wird mit dem Alter dicker, auch der Mensch“, sagt Pollmer. Bei den über 60-Jährigen liegt der Anteil der fettleibigen Deutschen bei rund 30 Prozent. Bei den Jugendlichen schwankt die Fettleibigkeit je nach Alter zwischen sieben und elf Prozent. Weitere Studien zeigen, dass unter den Kindern in Deutschland, etwa in Brandenburg, die Fettsucht in den letzten zehn Jahren nicht etwa dramatisch gestiegen, sondern stabil geblieben ist (Graphik 2). Die – ausschnitthaften – Daten deuten darauf hin, dass von einer Epidemie fetter Kinder nicht unbedingt die Rede sein kann.

Fettleibigkeit ist ein Gesundheitsproblem, darin sind sich die meisten Ernährungsexperten einig. Dennoch steigt unsere Lebenserwartung von Jahr und Jahr. Offen ist vorerst die Frage, wie sinnvoll die Kategorie „Übergewicht“ gemäß BMI wirklich ist. „Bis sich die Sache klärt“, lautet Pollmers Empfehlung, „lassen Sie sich von der derzeitigen Übergewichtshysterie nicht den Appetit verderben.“

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