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Medizin: Seltene Schwäche

Beim Marfan-Syndrom ist das Bindegewebe verändert – eine neue Spezialambulanz an der Charité bietet Hilfe.

„Kein Arzt wusste, was ich habe“, sagt Heidrun Seidel. „Und als die Diagnose im Alter von 37 Jahren endlich feststand, gingen auch schon die Probleme los.“ Tatsächlich leidet die Berlinerin unter einer ausgesprochen seltenen Erkrankung, die dazu noch sehr unterschiedliche Beschwerden verursachen kann. Kein Wunder, wenn Hausärzte oft ratlos sind. Schätzungen zufolge sind 16 000 Menschen in Deutschland vom Marfan-Syndrom betroffen.

Für die Berliner unter ihnen ist die Betreuung nun etwas einfacher geworden. Denn Ende des vergangenen Jahres wurde in den Räumen des Deutschen Herzzentrums Berlin (DHZB) eine Spezialambulanz eröffnet. Das Marfan-Zentrum wird vom Campus Virchow-Klinikum der Charité in Kooperation mit dem DHZB betrieben.

Möglich wurde die Gründung einer solchen Ambulanz durch eine Gesetzesänderung, die es Krankenhäusern mit besonderer Erfahrung erlaubt, Patienten mit seltenen, schwer zu behandelnden Krankheiten ambulant zu betreuen. Auf kaum eine Krankheit trifft diese Beschreibung so genau zu wie auf das Marfan-Syndrom. Benannt wurde es nach dem französischen Kinderarzt Antoine-Bernard Marfan (1858–1942), der es zuerst beschrieb. Aufgrund einer Genmutation hat das Bindegewebe der Betroffenen eine veränderte Struktur. Meist sind sie auffallend groß und schlank, haben lange, besonders biegsame Finger.

Was dem Komponisten Sergej Rachmaninoff oder der Volleyballerin Flo Hyman für ihr jeweiliges Spiel zupasskam, kann in mehreren Organen des Körpers ausgesprochen störende Folgen haben. So ist es kaum erstaunlich, dass die Betroffenen bei vielen Fachärzten gleichzeitig in Behandlung sind. „Wir haben nun die Möglichkeit, das alles in unserem Zentrum zu bündeln“, sagt die Herzchirurgin und organisatorische Leiterin des neuen Marfan-Zentrums, Petra Gehle.

Ihr Fachgebiet ist schon deshalb besonders wichtig, weil die größten Gefahren der Bindegewebsstörung für Herz und Blutgefäße drohen. In der Gefäßwand der Hauptschlagader können sich nämlich Aussackungen und Risse bilden, was im schlimmsten Fall zum Platzen der Aorta führen kann. Damit es nicht zur riskanten Notfalloperation kommt, wird heute oft vorbeugend eine Rohrprothese aus Plastik eingesetzt.

Heidrun Seidel war knapp 40, als sie operiert wurde. Später kamen schwere Herzprobleme dazu, so dass ihr ein neues Organ transplantiert wurde. „Nur den Spezialisten am Herzzentrum habe ich es zu verdanken, dass ich noch lebe“, sagt die heute 57-Jährige.

Noch im Jahr 1972 lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit Marfan-Syndrom bei 33 Jahren. „Heute ist sie bei umfassender Betreuung nahezu normal“, sagt der Charité-Humangenetiker und Marfan-Spezialist Peter Robinson. Ziel des neuen Zentrums sei die Betreuung „von der Empfängnis bis ins hohe Erwachsenenalter“, ergänzt Felix Berger, Direktor der Kinderkardiologie am DHZB.

Ein wichtiges Arbeitsgebiet sind dabei die Augen. Das Bindegewebsproblem führt dazu, dass die Linse nicht richtig aufgehängt ist, sich verschieben oder abreißen kann und dass die Einstellung auf Nah- und Fernsicht nicht klappt. Viele Patienten bekommen eine Kunstlinse, die besonders gut befestigt werden muss. Typisch sind außerdem Netzhautablösungen und ein erhöhter Augeninnendruck. „Marfan-Patienten haben mehrere Augenprobleme, sie sind eine besondere Herausforderung“, sagt Antonia Joussen, Direktorin der Augenklinik.

Auch Richard Placzek vom Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie hat sich auf die Behandlung von Marfan-Patienten spezialisiert. Neben Krümmungen der Wirbelsäule sei Arthrose in der Hüfte ein besonderes Problem, sagt der Mediziner: „Wenn ein Gelenkersatz nötig ist, sind auf der einen Seite Besonderheiten der Anatomie, auf der anderen die vielen Begleiterkrankungen zu berücksichtigen.“

70 Patienten haben inzwischen im Marfan-Zentrum Rat gesucht. Zwei von ihnen wurden bereits im Herzzentrum operiert, gerade noch rechtzeitig, wie Petra Gehle berichtet. Andere kommen mit dem Verdacht auf ein Marfan-Syndrom hierher. Denn auch für eine verlässliche Diagnose – oder den Ausschluss der Erkrankung – ist die gesammelte Expertise der Spezialisten wichtig. Adelheid Müller-Lissner

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