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Fundort. Hinter der Uni-Bibliothek stießen Bauarbeiter auf Knochen.

© Verena Blindow

Menschenknochen auf dem FU-Campus: Zu wenig kommuniziert

Schon früh kam der Verdacht auf, es könne sich um Überreste von NS-Opfern handeln kann. Doch die FU machte die Rechtsmediziner nicht darauf aufmerksam

Die menschlichen Überreste, die an der FU im Sommer bei Bauarbeiten gefunden wurden, sind längst eingeäschert und bestattet worden, wie Recherchen des Tagesspiegels ergeben. Denn die mit den Skelettfragmenten befassten Institute erfuhren erst Monate später, dass es sich dabei um Überreste von Opfern von Euthanasieverbrechen der NS-Zeit gehandelt haben könnte. So gingen die Gerichtsmediziner der Charité und die Mitarbeiter am Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin gemäß dem üblichen Verfahren vor. „Wir haben nichts angezeigt bekommen“, sagt Michael Tsokos, der beide Einrichtungen leitet. Die Knochen können darum nicht weiter untersucht werden. Auch die Bestattung auf dem Waldfriedhof in München bei anderen Euthanasieopfern, den die Max-Planck-Gesellschaft zu spät, nämlich im Dezember, angeregt hatte, ist nicht mehr möglich.

Peter-André Alt, der Präsident der FU, gibt zu, dass die FU ihren Verdacht nicht offensiv an die Institute herangetragen hat: „Es kann sein, dass weder die FU noch die Max-Planck-Gesellschaft direkt über den möglichen Kontext informiert haben“, sagt er auf Anfrage. „Womöglich gab es da eine Informationslücke.“ Die FU hatte die Sache nur unter ihren Mitgliedern öffentlich gemacht – wie Alt sagt, weil die Polizei selbst zunächst die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen wollte. Aber sogar in der uni-internen Darstellung fehlte der mögliche Bezug des Fundes zu Euthanasieverbrechen. Da das rechtsmedizinische Gutachten nichts Konkretes ergeben habe, habe man nicht öffentlich spekulieren wollen, sagt Alt.

"Bestimmt hätten wir mehr gemacht, hätten wir mehr gewusst"

Die über den Verdacht nicht informierten Rechtsmediziner maßen den Knochen aber keine besondere Bedeutung zu: „Bestimmt hätten wir mehr gemacht, wenn wir mehr gewusst hätten“, sagt Lars Oesterhelweg, leitender Oberarzt in der Rechtsmedizin der Charité, der das Gutachten über den Fund verfasst hat. Ob weitere Untersuchungen wirklich genauere Auskünfte gegeben hätten, lässt Oesterhelweg mit Blick auf die starke Verwitterung der Knochen aber offen.

Dem Gutachten zufolge stammen die vielen kleinen Knochenfragmente, die am 1. Juli an der Universitätsbibliothek der FU gefunden wurden, von mindestens 15 Menschen, auch von Kindern oder Jugendlichen (wir berichteten). Eine Polizeisprecherin erklärte auf Nachfrage, es seien unter anderem Gelenkköpfe von 30 Oberschenkelknochen gefunden worden. Ob es sich zu jeweils einer Person gehörende Paare handelt, lasse sich nicht mehr erschließen. Die Rechtsmediziner fühlten sich von bei den Skelettresten liegenden zehn runden Plastikmarken mit handschriftlichen Zahlen „an Markierungen für biologische/medizinische Präparate“ erinnert. Eine ebenfalls gefundene Ampulle enthielt Überreste der Flüssigkeit Procain, das bereits im Ersten Weltkrieg für die Betäubung verwundeter Soldaten verwendet worden sei.

Der Fundort befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Ihnestraße 22. Dort, wo heute FU-Politologen untergebracht sind, befand sich früher das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“. Seine Wissenschaftler forschten etwa an Sinti und Roma, die sie im Anschluss deportieren ließen. Sie nahmen auch menschliche Überreste zu weiteren Studien in Empfang, die KZ-Arzt Josef Mengele regelmäßig aus seinen tödlich verlaufenden Versuchen in Auschwitz gewann. FU-Präsident Alt ist sicher, dass es sich bei den gefundenen Skeletten nicht um Überreste von Kriegstoten handelt, sondern um Überreste aus der anatomischen Forschung – entweder aus dem verbrecherischen Kaiser-Wilhelm-Institut oder aber auch nur aus einer Lehrsammlung der gewöhnlichen Medizin.

Der Fund galt als gewöhnlich

Den Rechtsmedizinern der Charité schwante von diesem Verdacht jedoch nichts, als sie die Überreste untersuchten. In Berlin werden jedes Jahr zehntausende Knochen gefunden, sagt Michael Tsokos. Allein als der Potsdamer Platz nach der Wiedervereinigung umgegraben wurde, seien 26 000 Knochenstücke gefunden worden. Manche der in Berlin gefundenen Knochen stammten nur von Tieren. Bei Menschenknochen müsse die Rechtsmedizin klären, ob es Hinweise für ein Verbrechen gibt. Noch immer würden sehr viele Knochen von im Krieg umgekommenen Soldaten oder Zivilisten gefunden, sagt Tsokos. Auch der Fund einer anatomischen Sammlung mit Überresten von Kindern sei vor diesem Hintergrund – und angesichts der höheren Kindersterblichkeit in früheren Zeiten – nichts völlig Ungewöhnliches.

Gehören Knochen laut dem rechtsmedizinischen Gutachten zu Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft, veranlasst die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt die Beisetzung auf für diese Toten vorgesehenen Friedhöfen. Gibt es einen solchen Hinweis nicht – wie bei dem Knochenfund auf dem FU-Campus – leitet das Landesinstitut die Einäscherung ein. Als sich die FU dort im Herbst nach den Überresten erkundigte, waren diese bereits ins Krematorium Berlin-Ruhleben überstellt worden, sagt Tsokos.

Heute Gedenkveranstaltung

Die FU lädt inzwischen offiziell zu einer von dem Archäologie-Professor Reinhard Bernbeck initiierten Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Wissenschaft ein. Um 15 Uhr soll heute in der Ihnestraße 22 ein Kranz niedergelegt werden. Studierende lesen Gedichte von Primo Levi und Ruth Klüger. Am Fundort der Skelette will die FU-Leitung einen Gedenkstein aufstellen.

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