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Auf der Straße. Demonstranten im Juni in Istanbul. Viele von ihnen sind Studierende, an den Unis gründen sie Gruppen zur Mitbestimmung.

© REUTERS

Nach Gezi-Unruhen in Istanbul: Studierende wollen Unis in der Türkei verändern

Die Universitäten in der Türkei waren lange entpolitisiert. Nach den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul wollen junge Akademiker das nun ändern. Die Regierung droht bereits, Aktivisten ihre Stipendien zu entziehen.

Sommerhitze liegt über dem Campus der Bosporus-Universität in Istanbul. Vom parkähnlichen Gelände der renommierten staatlichen Hochschule im Stadtteil Hisarüstü auf einem Hügel über dem Bosporus aus fällt der Blick auf das glitzernde Wasser der Meerenge. Studierende in Sommerkleidern und Shorts schlendern mit ihren Taschen über den Schultern zur Bibliothek oder in die Sommerkurse. Alles scheint zu sein wie immer in den Semesterferien. Doch der Eindruck täuscht.

Viele der Studierenden, die hier fürs neue Semester lernen, haben ein einschneidendes Erlebnis hinter sich, das sie selbst verändert hat und möglicherweise bald ihre und andere Universitäten in der Türkei verändern wird. „Wir alle hatten das Gefühl, dass sich was tun musste“, sagt der 24-jährige Anil Kara, der an der Bosporus-Uni Elektrotechnik studiert. „Und dann ist es explodiert.“

Soziologen vergleichen die Proteste mit Studentenunruhen 1968

Die Explosion, von der Kara spricht, war der Ausbruch der landesweiten Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Juni. Eine kleine Demonstration von Umweltschützern gegen ein Bauprojekt der Regierung im Gezi-Park in der Istanbuler Innenstadt entwickelte sich innerhalb von Tagen zur schwersten Krise, die der machtgewohnte Ministerpräsident in seinen zehn Jahren an der Regierung erlebt hat. Die Protestbewegung wirft Erdogan vor, nur die eigenen Anhänger zu bedienen und die Wünsche und Forderungen der Andersdenkenden zu ignorieren. Bei Straßenschlachten starben fünf Demonstranten und ein Polizist, Tausende wurden verletzt. Soziologen vergleichen die türkischen Proteste mit der Zeitenwende der westeuropäischen Studentenunruhen von 1968.

Wie damals in Europa waren auch unter den vorwiegend jungen Demonstranten vom Gezi-Park viele Akademiker und Studierende. Auch der Elektrotechniker Kara ging auf die Straße. „Vorher interessierten sich nur wenige Studenten für Politik“, sagt er. „Das ist jetzt anders.“

Bis vor kurzem war politische Betätigung an den Unis verboten

Politisch interessierte und aktive Studierende sind in westeuropäischen Ländern normal, doch in der Türkei ist das anders. Nach dem Militärputsch von 1980, dem blutige Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen – darunter auch Studierende – vorangingen, wurden die türkischen Hochschulen von den Generälen radikal entpolitisiert. Dazu gehörte ein erst im vergangenen Jahr aufgehobenes strafrechtliches Verbot der politischen Betätigung an allen Hochschulen. Auch der Islam wurde bekämpft. Fromme Musliminnen unter den Studentinnen dürfen erst seit einigen Jahren mit Kopftuch in die Universität.

Die Freiheit der Lehre und das selbstständige Denken leiden bis heute unter den Folgen des Staatsstreiches. Das türkische Hochschulsystem bietet Studierenden an den rund hundert staatlichen Universitäten zwar ein kostenfreies Studium. Studiengebühren fallen nur bei den rund 70 stiftungsbetriebenen Universitäten an. Die Ausbildung der insgesamt rund drei Millionen Studierenden in der Türkei leidet aber unter der von den Militärs verfügten strikten Aufsicht des Staates.

Eine autonome Hochschulverwaltung gibt es in der Türkei nicht: So werden die Rektoren vom Staatspräsidenten ernannt, die Dekane von der zentralen Hochschulbehörde. Die unter der Herrschaft der Generäle 1982 ausgearbeitete und heute noch gültige Verfassung legt fest, dass der Universitätsbetrieb die „Einheit und Unteilbarkeit des Landes“ nicht infrage stellen darf. In den vergangenen Jahren landeten Dutzende türkische Studierende wegen der Teilnahme an Protestaktionen an ihren Hochschulen vor Gericht.

Kritisches Denken steht im Hintergrund

Diese ideologischen Vorgaben haben zur Folge, dass an türkischen Unis nach wie vor sehr viel auf die reine Aufnahme von Stoff geachtet wird, während das kritische Denken eher im Hintergrund steht. Viele Mitglieder der Wirtschaftselite des Landes haben deshalb an europäischen und amerikanischen Universitäten studiert.

Bald soll diese Lücke zumindest zum Teil von der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul geschlossen werden, die im September den Lehrbetrieb aufnimmt. Die Präsidentin des Konsortiums, Rita Süssmuth, sagte unlängst, sie wolle „keine unpolitische Universität“.

Am Verhältnis der türkischen Studierenden und einiger Hochschullehrer zu herkömmlichen Unis könnte sich nach den Gezi-Unruhen ebenfalls einiges ändern. Die Kritik am Staat ist inzwischen auf dem Campus der Bosporus-Uni angekommen. Als der Dozent Burak Ünveren, der bei den Straßenschlachten mit der Polizei ein Auge verlor, kürzlich an der Uni einen Sommerkurs begann, begrüßten ihn die Studierenden mit Applaus.

Auch neue Ansätze zur studentischen Mitbestimmung gibt es. In den vergangenen Wochen haben sich mehrere studentische Arbeitsgruppen an der Bosporus-Uni gebildet, die die Zustände an der Hochschule verändern wollen. Sie protestieren unter anderem gegen ein neues Gesetz, das die Sicherheit an türkischen Unis in die Hände der – als äußerst regierungsfreundlich und wenig tolerant angesehenen – Polizei legt. Bislang waren private Wachdienste dafür zuständig.

„Die Studenten wenden sich gegen staatlichen Druck“, sagt die Wirtschaftsstudentin Sinem Sönmez vor der Bosporus-Uni. „Die neue Politisierung betrifft aber nicht nur die Universitäten, sondern die gesamte Jugend.“

Das könnte noch für ernsthafte Spannungen an den Unis sorgen. Vizepremier Bülent Arinc sprach in einem Fernsehinterview von geheimdienstlichen Hinweisen auf geplante regierungsfeindliche Aktionen an den Unis. Damit solle die Regierung vor den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr in ein schlechtes Licht gerückt werden. Die für die Stipendienvergabe zuständige Behörde erklärte unterdessen, Studenten, die sich an „Widerstandsaktionen“ beteiligt hätten, seien von staatlicher Unterstützung ausgeschlossen.

"Der Staat hat Angst vor uns", sagt ein Student

„Der Staat hat Angst vor uns“, sagt der Jurastudent Özgür Peynirci. Er engagiert sich in einer Studentengruppe an der Istanbul-Universität in der Altstadt der Metropole, unweit der Hagia Sophia. „Denn wenn die Studenten aufgeklärt sind, dann wird sich das auch auf die Bevölkerung allgemein auswirken.“

Nicht nur in Istanbul rumort es unter den Studierenden, berichtet Peynirci. Auch in anderen großen Städten wie Ankara, Izmir, Adana und Bursa sei eine neue Aufbruchstimmung spürbar. In vielen Universitäten in der anatolischen Provinz herrsche dagegen weiter ein äußerst konservativer Geist.

Doch davon lässt sich Peynirci, der im Protestcamp des Gezi-Parks mit Gleichgesinnten eine Art Rechtsberatung für Demonstranten betrieb, nicht abschrecken. Obwohl das Wintersemester erst Mitte September beginnt, will er schon einige Wochen vor dem Unterrichtsstart an seiner Uni sein, um mit der Arbeit in einer regierungskritischen Vereinigung von Jurastudenten zu beginnen. Im Herbst werde es sicher mehr kritische Studenten, aber auch mehr Druck des Staates geben, ist Peynirci sicher. „Es wird auf jeden Fall lebendiger werden.“

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