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Würfelglück. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, beim „Mensch ärgere dich nicht“ mit drei Versuchen eine Sechs zu würfeln, lässt sich berechnen.

© picture alliance / dpa

Neue Rechen-Studie: Die Deutschen können kaum Mathe

Mathematik, ein Graus? Für viele ja. Die Deutschen können nicht gut rechnen, zeigt eine neue Studie. Vom Schulunterricht bleibt offenbar nur übrig: Rechnen macht keinen Spaß.

Wie viele Minuten müssen Sie warten, wenn sich die S-Bahn zuerst eine halbe Stunde und dann, entgegen der ersten Ankündigung, noch mal um eine Viertelstunde verspätet? Diese Frage könnten wohl alle Menschen beantworten, die gerade auf dem Gleis stehen: klar, eine Dreiviertelstunde, oder: 45 Minuten! Verdammt ärgerlich!

Gibt man denselben Menschen aber ein Blatt Papier mit der Aufgabe 1–2  +  1–4 , dann fängt mancher schon an zu schwitzen, findet die Aufgabe „zu kompliziert“ und beantwortet sie falsch. Nur 57 Prozent der Erwachsenen mit Hauptschulabschluss konnten die so gestellte Aufgabe richtig beantworten, und auch 12 Prozent der Erwachsenen mit Abitur kapitulierten – das ist eines von vielen eher erschreckenden Ergebnissen einer neuen Studie zur Rechenkompetenz der Bürger in Deutschland (Beispielaufgaben finden Sie hier). Die zentrale Erkenntnis der Studie, die die Stiftung Rechnen in Kooperation mit der „Zeit“ in Auftrag gegeben hat: Die Deutschen sind im Rechnen eher schwach, und das gilt nicht nur für diejenigen mit niedrigem Bildungsabschluss. Manch ein erfolgreicher Anwalt, manche Zahnärztin oder mancher Journalist trägt ein dunkles Geheimnis mit sich herum: Rechnen, mathematisch denken kann er oder sie nur stümperhaft, auf dem Niveau eines Viertklässlers.

„Zu viele Deutsche können das, was sie im Mathematikunterricht gelernt haben, in Alltagssituationen nicht anwenden“, sagt Johannes Friedemann, Vorstand der Stiftung Rechnen, bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch im Haus der Commerzbank in Berlin. Er sieht „erhebliche Defizite“ bei seinen Mitbürgern, die sich auf ihre Urteilsfähigkeit und Lebensqualität auswirken. Die Stiftung Rechnen hat sich dem Leitbild des mündigen Bürgers verschrieben – und mündig, zu guten Entscheidungen fähig sei letztlich nur, wer Preise vergleichen, Statistiken lesen, Grafiken verstehen, Größen berechnen kann. „Seit Pisa werden die Schüler ständig getestet“, sagt „Zeit“-Wissenschaftsredakteur Christoph Drösser. „Aber wer testet die Erwachsenen? Wir wissen viel zu wenig darüber, was vom Schulunterricht eigentlich hängen bleibt.“

Offenbar nicht viel – oder vor allem das Gefühl „Mathe macht keinen Spaß und ist schwierig“. Um die Rechenkompetenz von Otto und Ottilie Normalbürger zu testen, haben die Mathematikdidaktiker Ulrich Kortenkamp (Martin-Luther-Universität Halle) und Anselm Lambert (Universität des Saarlandes) 30 alltagsnahe Aufgaben entwickelt, das Sozialforschungsinstitut Forsa führte die Studie durch. 1027 Bürger zwischen 18 und 65 Jahren, eine repräsentative Stichprobe, durften die Aufgaben in Ruhe am heimischen Bildschirm bearbeiten – mit der Möglichkeit, einen Taschenrechner zu verwenden und Pausen zu machen. Und dabei erkannten sicher auch die Skeptischen unter ihnen, wie nützlich die Mathematik sein kann. Das fängt beim Renovieren an: Wie viele Eimer Farbe brauche ich, um meinen Keller zu streichen? (Nur 52 Prozent der Befragten konnten die entsprechende Frage – siehe Kasten – richtig beantworten.) Es geht beim Einkaufen weiter: Nach wie vielen Jahren rentiert sich ein Kühlschrank, der teurer ist, aber weniger Energie verbraucht? Und endet nicht bei der Geldanlage: Wenn eine Aktie erst um zehn Prozent fällt und dann wieder um zehn Prozent steigt, ist sie dann mehr, weniger oder gleich viel wert wie vorher? „Unsere Hoffnung war, dass 80 Prozent der Bevölkerung alle Fragen beantworten könnten“, sagt Mathematikdidaktiker Kortenkamp. Dass nicht einmal die Deutschen mit Abitur diesen Prozentsatz erreichten, sei erschreckend.

Eine eingehende wissenschaftliche Analyse der Ergebnisse steht noch aus. Zum Beispiel lässt sich noch nicht sagen, ob das unterschiedliche Abschneiden von Männern und Frauen tatsächlich mit der Geschlechtszugehörigkeit zu tun hat - oder nicht eher mit anderen Variabeln wie Alter oder Erwerbstätigkeit.

Dagegen wirkt sich der besuchte Schultyp klar aus: Erwachsene mit Abitur schneiden durchweg besser ab als ihre Altersgenossen mit Mittlerer Reife oder Hauptschulabschluss. Und die Geografie spielt eine Rolle: Studienteilnehmer im Osten Deutschlands lösten die meisten Aufgaben schlechter als die im Westen. „Daran wird der brain drain erkennbar“, sagt Kortenkamp. „Wer gut rechnen kann, lebt oft nicht mehr im Osten.“

Wie lässt sich die Rechenfitness der Bevölkerung verbessern? Die Stiftung Rechnen setzt auf die „Freude am Rechnen“ und hat unter anderem das Programm „Mathe.Forscher“ ins Leben gerufen: Schüler in Modellschulen erforschen mathematische Phänomene in fächerübergreifenden Projekten kreativ und alltagsnah. Auch Mathematikdidaktiker Lambert plädiert vor allem für eine „neue Aufgabenkultur“, die den Schülern den Zusammenhang der Mathematik mit ihrer Lebenswelt deutlich macht.

Bleibt das Problem: Auch wenn sich der Matheunterricht noch so sehr verbessert, die Erwachsenen von heute erreicht er nicht. Sie werden sich nicht in Volkshochschulkurse setzen, um ihre Mathekenntnisse aufzufrischen, allenfalls könnten sie über lustige Apps (etwa unter www.unlockyourbrain.com) oder Onlineprogramme (www.vismath.eu) motiviert werden, ihre Angst zu überwinden.

Vorerst jedenfalls sollten vor allem Verbraucherschützer, Journalisten und andere, die professionell Fakten darstellen und aufklären, die durchschnittlich schwachen Rechenfähigkeiten ihrer Zielgruppen berücksichtigen. Eine Zeitungsgrafik etwa, die die Entwicklung von Goldpreis und Bilanzsumme der Notenbanken darstellen sollte, konnte nur ein Drittel der Befragten richtig interpretieren. Da hilft nur eine einfachere Darstellung. Oder, auf die S-Bahn bezogen: Stell die Aufgabe möglichst anschaulich. Und lass Brüche am besten ganz weg.

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