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Neurobiologie: Kostengünstige Medikamente gegen Aggressivität wirken nicht

Studie zeigt, dass Plazebo für geistig Behinderte ebenso gut sind wie Antipsychotika.

Wissenschaftler haben entdeckt, dass das Schlucken eines Zuckerdragees effektiver ist als die Routinemedikation bei der Behandlung von Menschen mit geistigen Behinderungen.

Bislang bekommen Menschen mit geistiger Behinderung Antipsychotika verschrieben, die normalerweise in der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen wie der Schizophrenie eingesetzt werden, um aggressives Verhalten wie Stoßen mit dem Kopf zu behandeln. Die Evidenz für die Wirksamkeit dieser Medikamente war jedoch dünn.

"Antipsychotika werden gemeinhin verwendet, weil sie billig sind und in hohen Dosen die Leute sedieren", erklärt Eric Emerson von der Lancaster University, Experte für das Verhalten geistig behinderter Menschen.

Peter Tyrer vom Imperial College London leitete ein Forschungsprojekt, das sich 86 Menschen mit geistiger Behinderung in Einrichtungen in England und Wales sowie einer Einrichtung in Australien widmete. Patienten, die wegen ihres aggressiven Verhaltens behandelt wurden, erhielten nach dem Zufallsprinzip eines von zwei Antipsychotika - Resperidon oder Haloperidol - oder Plazebo.

Diese Antipsychotika werden seit mehr als 40 Jahren in der Behandlung von Aggressivität bei Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen eingesetzt. Sie blockieren Dopamin-D2-Rezeptoren, was bedeutet, dass Menschen, die sie nehmen, weniger Dopamin in ihrem limbischen System aufweisen, der Gehirnregion, die mit Sucht, Belohnung und Angst assoziiert ist. Dopamin ist der wichtigste Neurotransmitter, der an der Erregung beteiligt ist.

"Die Medikamente dämpfen jegliches Verhalten, nicht nur die Aggressivität", sagt John Taylor, Vorsitzender der British Association for Behavioural und Cognitive Psychotherapies, "und es gibt keine Evidenz, dass sie besonders gegen Aggressivität wirken." Sie haben außerdem etliche andere Wirkungen. "Resperidon und Haloperidol sind Medikamente mit vielen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Speichelfluss, Krampfanfällen, Hautunreinheiten und so weiter", sagt Tyrer.

Medikamente wirken nicht

Ein Pfleger, der nicht wusste, welcher Patient welche Medikation erhielt, bewertete ihr Verhalten anhand eines standardisierten Maßstabs für Aggressivität nach 4, 12 und 26 Wochen. Die Aggressivität nahm nach 4 Wochen unter allen drei Behandlungsoptionen wesentlich ab, wobei Plazebo die Liste mit einer Erfolgsrate von 76 % anführte, gegenüber 58 % für Resperidon und 65 % für Haloperidol. Später hatten alle drei Behandlungsoptionen annähernd denselben Effekt, wie in Lancet (1) berichtet wird.

Die Ergebnisse wecken Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Antipsychotika bei der Behandlung aggressiven Verhaltens. Durchschnittlich intelligente Menschen, die eine aggressive Fahrweise an den Tag legen oder gegenüber ihren Lieben gewalttätig werden, erhalten psychologische Interventionen statt Medikamenten. Diese Art der Intervention ist teurer.

Nicht jeder ist überzeugt, dass die Ergebnisse Bestand haben werden. Christopher McDougle, Psychopharmakologe an der Indiana University School Medicine, merkt an, dass die Dosen, die in der Studie gegeben wurden, zu gering gewesen seien. Die Wissenschaftler verwendeten die Dosen, die für die initiale Behandlung erforderlich sind, sie sind jedoch zu gering, so Mc Dougle, um eine therapeutische Wirkung zu haben. Darüber hinaus befürwortet er längere Follow-ups.

Währenddessen hat McDougle Bedenken, die antipsychotische Medikation für diese Patientengruppe zu beschränken. "Wenn Sie versuchen wollen, diese Menschen ohne Resperidon oder Haloperidol zu behandeln - viel Glück", sagt er.

Tyrer hat inzwischen den Vorsitz einer Gruppe inne, die für das National Institute of Clinical Excellence in Großbritannien Richtlinien für die Behandlung aggressiven Verhaltens bei Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen erstellt.

Der nächste Schritt besteht für sein Team darin, nichtpharmakologische Therapien zu entwickeln, die beinhalten, die Umgebung des Betroffenen zu verändern, um Aggressionsauslöser zu vermeiden. "Diese Art der Behandlung hat sich bei antisozialen Patienten bewährt", sagt Tyrer, "und wir denken, dass sie dieser Gruppe ebenfalls helfen wird."

(1)Tyrer P. et al., Lancet, 371, 57-63 (2008)

Dieser Artikel wurde erstmals am 2.1.2008 bei news@nature.com veröffentlicht. doi: 10.1038/news.2007.404. Übersetzung: Sonja Hinte. © 2007, Macmillan Publishers Ltd

Jennifer Wild

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