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Pädagogik: Autorität ist eine Kunst

Regeln und Strafen waren für Pädagogen lange tabu. Das ändert sich, denn Kinder brauchen Orientierung.

Wie erziehe ich „richtig“? Eltern und Pädagogen sehen sich einem Dschungel von Ratgebern gegenüber, im Fernsehen hilft die Super-Nanny – ein Symptom dafür, dass die alten Gewissheiten längst nicht mehr gelten, die Erwachsenen angestrengt nach dem geeigneten Erziehungsstil suchen. Kein Wunder. Viele Jugendliche verstehen sich meisterhaft darauf, Pädagogen ebenso wie Eltern in Verlegenheit zu bringen und sie in Beziehungs- und damit Erziehungsfallen zu locken.

Ein aktuelles Beispiel sind die männlichen Jugendlichen vor allem aus den arabischen Ländern. Sie lechzen – wie jeder spüren kann – geradezu nach wirklicher Autorität, weil sie diese in ihrer Familie und besonders vom Vater nicht erfahren, sie aber im Alltag der Schule aggressiv abwehren. Wegen traditioneller Erziehungsmuster tun sie so, als würden sie Autorität nur von männlichen Pädagogen und nicht von „schwachen Frauen“ akzeptieren.

Auch viele einheimische Jugendliche machen durch ihr Verhalten deutlich, dass sie auf der gleichzeitigen Suche nach Orientierung und emotionaler Anerkennung ins Strudeln geraten sind. Das gilt auffällig häufig für junge Männer, die ein ganz besonders großes Autoritätsdefizit zu haben scheinen, es aber immer wieder durch Großmannsgetue und Gewalt überspielen. Es scheint, als erlebten wir hier, gespiegelt in der Persönlichkeitsstruktur von Teilen der jungen Generation, eine der letzten Spätfolgen des massiven Umbruchs von 1968. Das ist ein neuer Anlass und eine neue, sehr schwere Herausforderung, über das richtige Maß von Autoritätsausübung und Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung nachzudenken.

Das Jahr 1968 ist ein Symbol für einen tief greifenden sozialen und kulturellen Umbruch in Deutschland. Der Umbruch erfasste auch die Familien und die öffentlichen Bildungsstätten für Kinder und Jugendliche. Eltern und Berufspädagogen wurde vorgeworfen, die Bedürfnisse von Kindern schon vom Babyalter an zu unterdrücken, damit die Selbstständigkeit der Angehörigen der jungen Generation zu blockieren und sie bereit zu machen für einen, wie man sagte, „autoritären Charakter“. Der Generalverdacht war, das totalitäre Regime des Nationalsozialismus in Deutschland sei genau durch solche Erziehungsmuster möglich geworden. Ein strikt „anti-autoritärer“ Erziehungsstil, der auf die persönlichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nimmt, ja, sie am besten in den Mittelpunkt der Beziehung zwischen den Angehörigen der älteren und der jüngeren Generation stellt.

Anti-autoritär – das sollte das Gegenteil von autoritär sein. In der Praxis der alltäglichen Erziehung aber wurde daraus ein pädagogisches „Laufen lassen“, ein Laissez-faire-Erziehungsstil voller Permissivität, der die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigte, aber die der Eltern und Erzieher verdrängte. Die Kinder durften alles und sollten alles selbst bestimmen, die Erwachsenen hatten nichts zu sagen oder taten jedenfalls so, als ob sie nichts zu sagen und zu bestimmen hätten. Der Erziehung ging damit so allmählich jede Richtung verloren. Die als verhängnisvoll erkannten erniedrigenden und unterdrückenden Handlungen des „Ziehens“ wurden von Eltern und Lehrern unterlassen, aber fatalerweise ging damit auch jede Bewertung und damit jede Wertschätzung der Äußerungen und Aktivitäten der Kinder verloren.

Falsch war und ist, anti-autoritär mit anti-autoritativ gleichzusetzen. Aber in der emotional aufgeladenen Diskussion über die „richtige“ Erziehung, die bis in die 1980er Jahre hinein verbissen geführt wurde, traute sich kaum ein Erziehungswissenschaftler in Deutschland an diese Klarstellung heran. Erst in den letzten zehn Jahren, unter dem Einfluss der internationalen Forschung, im Zuge der Entkrampfung von Richtungsstreitereien in der Pädagogik allgemein, nicht zuletzt durch populäre Erziehungssendungen, wird allmählich allen Akteuren klar, dass autoritäres Gehabe und autoritätsbezogenes Verhalten sorgfältig auseinanderzu- halten sind.

Die angemessene Dosierung von Autorität gehört in jede Erziehung und ist Baustein jeder Beziehung. Nur hierdurch erhält das Kind einen Hinweis, welches Lebenskonzept und welche Werte der Pädagoge selbst vertritt. Nur hierdurch kann ein emotional enger Kontakt aufgebaut werden, bei dem sich das Kind am Pädagogen orientieren und auch reiben kann. Nur hierdurch sind sinnvolle Sanktionen („Strafen“) möglich, die dem Kind anzeigen, wann es gegen eine vorher abgestimmte gemeinsame Regel verstoßen hat und wie es sich wieder in das gemeinsame Netzwerk einklinken kann. Ohne einen solchen Einsatz von Autorität ist kein Anregen, kein Anleiten und kein Anerkennen möglich, das die Persönlichkeit des Kindes erreicht.

Eine „perfekte“ Erziehung gibt es nicht. Aber es gibt Hinweise, welche Erziehung unwirksam oder sogar schädlich ist: Eine Überdosis von Autorität, die das Kind gängelt und ins Autoritäre führt, ist ebenso von Übel wie eine Überdosis von Bedürfnisbefriedigung, die das Kind in Watte hüllt und ihm jede Eigeninitiative abnimmt. Sowohl der autoritäre als auch der anti-autoritäre Erziehungsstil machen Kinder schwach und blockieren ihre Selbständigkeit. Besser ist die pragmatische Mischung von Anregung, Anleitung und Anerkennung, die das Kind emotional unterstützt und seine persönlichen Eigenarten annimmt, zugleich aber zu Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit herausfordert.

Kinder und Jugendliche selbst scheinen das intuitiv zu spüren. Wie sonst wäre es zu erklären, dass in allen neueren Studien solche schon verloren geglaubten Werte wie Disziplin, Ordnung, Fleiß und Sicherheit wieder an Boden gewinnen? Die jungen Leute wollen Eltern und Erzieher, die sich für sie interessieren, die sie anleiten, die ihnen aber schrittweise eine immer längere Leine lassen, um sich selbst zu finden und „managen“ zu können.

In der Praxis ist das oft eine schwierige Mischung. Erziehung ist heute ein kompliziertes und Kräfte raubendes Handwerk. So mancher gut ausgebildete professionelle Erzieher und Pädagoge ist schon hieran gescheitert. In der heutigen Zeit Autorität zu haben und überzeugend auszuüben, das ist ein wahres Kunststück. Autorität hat man nur, wenn man eine eigene starke Persönlichkeit hat und das anderen gegenüber transparent zeigt. Autorität kann in einer demokratischen Gesellschaft nur durch Mitdenken, Mitfühlen und Mithandeln immer wieder neu legitimiert werden. Sie muss ganz authentisch durch den persönlichen Stil des Erziehers oder Pädagogen gefüllt sein. Sonst wird sie schnell schal und droht in der Tat, entweder ins anmaßende Autoritäre umzuschlagen oder ins Leere zu laufen.

Der Autor ist Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. – Der Tagesspiegel veröffentlicht am Sonntag eine Sonderausgabe zum Thema „Erziehung“.

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