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Reformschulen: Abschied vom pädagogischen Eros

Der Fall Odenwaldschule: Sexueller Missbrauch gehört zur Geschichte der reformorientierten Internate – eine Aufarbeitung ist längst überfällig.

Die Aufdeckung immer neuer Fälle sexuellen Missbrauchs aus den letzten Jahrzehnten in kirchlichen Einrichtungen hat die Öffentlichkeit alarmiert und erschüttert. Die Welle der Aufklärung hat nun auch die renommierte Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim erreicht, die im nächsten Monat stolz ihr hundertjähriges Bestehen feiern wollte. Und auch der langjährige Leiter der Schule Schloss Salem, Bernhard Bueb, spricht jetzt erstmals über Missbrauchsfälle an seinem Internat. Aus der Oberhambacher Jubelfeier wird nun nichts, denn sie wird überschattet durch die Berichte zahlreicher Opfer aus dem Kreis ehemaliger Schüler, die vor allem den langjährigen Schulleiter Gerold Becker, aber nicht nur ihn, belasten. Seit 1999 stehen diese Vorwürfe im Raum. Sie hatten seinerzeit zwar dazu geführt, dass Becker und die Odenwaldschule ihre Verbindungen lösten, aber nachhaltig ist den Opferberichten damals weder intern noch extern nachgegangen worden. Denn sie passten und passen nicht in das idyllisch-moderne Selbstbild, das die privat betriebenen Landerziehungsheime im 21. Jahrhundert von sich entwerfen.

Dieses Bild steht in einer Tradition, die in Deutschland 1898 mit der Gründung des ersten Landerziehungsheims bei Ilsenburg im Harz durch Hermann Lietz (1868–1919) ihren Ausgang nahm. Ihr folgten in kurzen Abständen nicht nur weitere Gründungen, sondern schnell auch die ersten Abspaltungen. 1906 gründeten zwei seiner Lehrer, nämlich Gustav Wyneken (1875–1964) und Paul Geheeb (1870–1961), die Freie Schulgemeinde (FSG) Wickersdorf, das erste koedukative Internat in Deutschland. Nach dem Zerwürfnis der beiden verließ Geheeb Wickersdorf, um im April 1910 sein eigenes Internat ins Leben zu rufen, eben die Odenwaldschule.

Alle diese Landerziehungsheime verstanden sich – bei aller Heterogenität ihrer pädagogischen Profile – als kritischer Stachel im Fleisch des staatlichen Bildungssystems. Sie wollten einen neuen Schultyp kreieren, gerichtet gegen den Geist, die Inhalte und Methoden der gymnasialen „Buchschule“, aber auch gegen die negativ eingeschätzten Folgen der modernen Zivilisation. Sie wandten sich zum Dritten gegen die Gefahren der modernen Großstadt, äußeren Luxus und Genussleben, Alkohol und Nikotin.

Naturverklärung und asketisches Leben zählten von Beginn an ebenso zu den pädagogischen Prämissen der Landerziehungsheimbewegung wie ihr Selbstverständnis, eine authentische Erziehungsinstitution in einer Zeit sein zu wollen, in der gerade bürgerliche Familien ihre Erziehungsaufgabe immer weniger ausgefüllt hätten. Dagegen setzten die Landerziehungsheime ihr Credo einer ganzheitlichen Erziehung: naturgemäß, kindgemäß, entwicklungsgemäß und gemeinschaftsgemäß. Ganzheitlich hieß eben auch, nicht nur den Geist, sondern vor allem auch den Körper zu bilden durch Hygiene, Sport, handwerkliche Arbeiten und durch angemessene Ernährung.

Das Programm implizierte eine Neudefinition der Lehrerrolle, der nicht nur Unterrichtsbeamter oder Vermittler von Kenntnissen war, sondern verständnisvoller Kamerad und Helfer, manchmal auch charismatischer Führer sein sollte. Das tägliche Zusammenleben auf diesen pädagogischen Inseln, die emotionale Nähe des Lehrer-Schüler-Mikrokosmos „Familie“ oder „Kameradschaft“, war und ist anstrengend, herausfordernd und für professionelle Pädagogen risikobehaftet.

Risikobehaftet war diese erwartete emotionale Nähe in der Geschichte der Landerziehungsheime immer. Insofern lässt sich ihre Geschichte ohne die Verweise auf die Praxis sexuellen Missbrauchs nicht schreiben. Landerziehungsheime oder kirchliche Einrichtungen nach den jüngsten Erkenntnissen nun unter Generalverdacht zu stellen, wäre aber fahrlässig. Die Fälle als Einzelfälle abzutun ebenso. Der Zusammenhang ist weder zufällig noch zwangsläufig.

Auch wenn es den Opfern nicht hilft, für den historischen Beobachter gilt es zu differenzieren. Für viele Landerziehungsheime – so auch für die Odenwaldschule – galt es vor dem Ersten Weltkrieg als selbstverständlicher Bestandteil ihrer körperlichen Erziehung, dass Jungen und Mädchen sich morgens nackt im Freien zur Morgengymnastik trafen. Niemand, weder die Eltern noch die Öffentlichkeit, nahm daran Anstoß. Dies galt als Bestandteil einer natürlichen und asketischen Körpererziehung jenseits irgendwelcher sexueller Konnotationen.

Eine andere Qualität bekam der Bezug zum Körper allerdings dort, wo das pädagogische Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern weltanschaulich über den „pädagogischen Eros“ definiert und gelebt wurde. Das war vor allem in der FSG Wickersdorf der Fall und bei ihrem Mitbegründer Gustav Wyneken, der dieses Konzept philosophisch legitimierte und zur gefährlichen Grundlage seiner Schule gemacht hatte.

„Eine durch den platonischen Eros mit ihrem Führer verbundene Knaben- und Jünglingsschar kann der innerste, lebendige Kern des heiligen Ordens der Jugend werden, der die Freie Schulgemeinde sein will. Aus solchem Eros erwuchs Mut und Lust zu ihrer Gründung, aus solchem Eros die schöpferische Kraft ihres ersten Aufschwunges. Und hätte Wickersdorf nur das ermöglicht, dass einmal ein solcher heiliger, schöner und begeisterter Liebesbund inmitten unserer kalten und stumpfen Welt erblühen könnte – es hätte sein Dasein schon gerechtfertigt als bloße Hülle um diesen edlen, lebendigen Kern.“ Das schrieb Wyneken 1922. Ein Jahr zuvor wurde er vor dem Landgericht Rudolstadt – wir würden heute sagen: wegen sexuellen Missbrauchs – verurteilt und musste seinen Posten räumen. Er soll mehrere Schüler sexuell belästigt haben, was er bestritt, weil für ihn eine angeblich nur nackte Umarmung zwischen Lehrer und Schüler und angeblich nur harmlose Küsse im Rahmen des Eros-Konzeptes etwas Selbstverständliches waren und zur neuen Körpererziehung gehörten.

Das mag aus heutiger Sicht ebenso befremdlich klingen wie die Tatsache, dass es 1921 eine breite Solidarisierungswelle für Wyneken gab, deren Protagonisten seine „Kriminalisierung“ verurteilten, seinen Freispruch forderten, weil sie in ihm einen modernen Pädagogen und einen Verfechter für die Rechte der Jugend sahen. Dies muss nicht unbedingt eine Verteidigung seines auf Platon zurückgehenden Konzeptes der dorischen Knabenliebe gewesen sein, aber eine Anerkennung als radikaler Kritiker des staatlichen Schulsystems und der vermeintlich überkommenen Familienerziehung. Diese wollte Wyneken durch eine Erziehung in (männlichen) jugendlichen Erziehungsgemeinschaften, geschart um charismatische Führer, ersetzt sehen.

Es mag sein, dass Wyneken und seine Adepten sich ideengeschichtlich zu Recht auf Platon berufen konnten, aber sie hatten völlig die historischen Kontexte und sozialen Voraussetzungen sowie die gesellschaftliche Bedeutung der päderastischen Praxis und ihrer aristokratischen Grundstruktur in der Antike ignoriert. Platons Eros-Konzept war ja selbst eine Reaktion auf die nicht nur in der archaischen, sondern auch in seiner Zeit gesellschaftlich akzeptierten sexuellen Komponenten der Knabenliebe, die er durch sein Abstinenz- und Sublimierungsideal überhöhen wollte. Dass eine solche Praxis nicht problemlos – und allen historischen, moralischen und kulturellen Wandel ignorierend – auf die Erzieher-Zöglings-Beziehungen in öffentlichen oder staatlich anerkannten Privatschulen des 20. Jahrhunderts übertragen werden kann, liegt eigentlich auf der Hand.

In pädagogischen Konzepten, wie Wyneken sie propagierte, liegt die Grenze zwischen der platonischen Liebe zwischen Erzieher und Zögling, die von den Pädagogen als Beziehung unter Kameraden definiert wurde, und sexuellen Übergriffen gefährlich nahe. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass es in der Geschichte der FSG Wickersdorf bis 1945 zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben hatte. Georg Hellmut Neuendorff etwa unterrichtete von 1909 bis 1911 in Wickersdorf. 1912 gründete er die Dürerschule im hessischen Vogelsbergdorf Hochwaldhausen.

Nach dem Selbstmord einer Schülerin, mit der er ein sexuelles Verhältnis hatte, setzte er sich nach Argentinien ab, wurde aber nach der erzwungenen Rückkehr in Gießen wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Der spätere Literaturhistoriker Joachim Georg Boeckh wurde 1931 wegen sexueller Verfehlungen in Wickersdorf entlassen und konnte 1938/39 dennoch an der Odenwaldschule Leitungsfunktionen übernehmen.

Die beiden Beispiele mögen andeuten, dass wir uns erst am Beginn einer gesellschaftlichen Debatte befinden, deren Ende und Ergebnis noch nicht absehbar sind. Die jetzt erst ans Tageslicht kommenden Missbrauchsfälle dokumentieren zugleich die Schattenseiten einer pädagogischen Praxis, die jene professionelle Empathie und Distanz vermissen ließ, die man gemeinhin von Pädagogen erwarten sollte. Sie zeigen aber auch, dass der „pädagogische Eros“ in der Realität Beziehungsstrukturen zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen erzeugt, die in ihren extremen Ausprägungen Formen der Hörigkeit und Intoleranz aufweisen, wie sie politischen oder religiösen Sekten eigen sind.

Dennoch kann es jetzt nicht darum gehen, reformpädagogische Ansätze einfach über Bord zu werfen. Vieles von dem, was heute Schule prägt und unverzichtbar zum schulischen Alltag zählt, wurde erst durch reformpädagogische Initiativen auch der Landerziehungsheime erprobt und auf den Weg gebracht. Die Odenwaldschule hat in der Geschichte der Reformpädagogik noch immer ihren festen Platz, etwa beim koedukativen Lernen, bei der Einführung eines flexiblen Kurssystems und dualer Ausbildungsgänge, bei schülerzentrierten und handlungsorientierten Unterrichtsformen, im künstlerischen Bereich oder bei der demokratisch legitimierten Schülerselbstverwaltung.

Andererseits gilt auch: Für Missbrauch jeglicher Art darf es keinen Spielraum und keine geschichtsphilosophische Legitimation geben. Die langjährige Praxis des Wegsehens, Vertuschens und Verharmlosens muss ein Ende haben, oder die Landerziehungsheime sehen ihrem eigenen entgegen. Katharsis ist vonnöten.

Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main.

Peter Dudek

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