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Umgarnt. Angriffe durch Meeresmonster galten lange als Seemannsgarn. Vieles war übertrieben, wie hier die Größe. Aber es gibt solche Tiere tatsächlich.

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Riesenkalmare: Wahre Ungeheuer

Riesige Tintenfische, die ganze Schiffe verschlingen können, galten lange als Mythos. Doch solche gewaltigen Tiere gibt es tatsächlich und Biologen beginnen, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln.

Es stockt einem unwillkürlich der Atem, wenn die Biologin Kat Bolstad im Hinterhof der Auckland University of Technology in Neuseeland den Deckel von einem riesigen Metallbehälter wuchtet. In der rostbraunen Flüssigkeit ringelt sich aus einem großen Sack ein unüberschaubares Wirrwarr aus langen, kräftigen Armen. Ein riesiger Tintenfisch liegt eingequetscht in dem Kasten. Würde man aus dem Mantel des toten Riesenkalmars Architeuthis dux die für eine Meeresfrüchte-Speisekarte typischen Ringe schneiden, wären sie so groß wie Lkw-Reifen. Ein leibhaftiges Meeresungeheuer.

600 Kilometer weiter südlich staunen Besucher im Nationalmuseum Te Papa der neuseeländischen Hauptstadt Wellington über einen weiteren Giganten: Hier schwimmt ein Kolosskalmar Mesonychoteuthis hamiltoni unter Plexiglas. Er gehört zu einer völlig anderen Gruppe der Tintenfische, erreicht aber ähnlich monströse Ausmaße.

Präpariert. Die Biologin Kat Bolstad mit einem konservierten Riesenkalmar.
Präpariert. Die Biologin Kat Bolstad mit einem konservierten Riesenkalmar.

© RHK

Es gibt sie also wirklich, die Riesentintenfische, die auf alten Kupferstichen kleinere Schiffe mit Mann und Maus zu verschlingen drohen. Dass die Tiere tatsächlich Boote angegriffen haben, hält Uwe Piatkowski vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel für unwahrscheinlich: „Unter Wasser kann ein Riesenkalmar die im Boot sitzenden Menschen ja gar nicht sehen, kann dort daher auch kaum Beute vermuten.“ Damals wie heute gelangen aber hin und wieder riesige Weichtiere aus der Tiefe an die Oberfläche, wo sie bald sterben. Haben Fischer dem Ungeheuer in seinem Todeskampf vielleicht noch einen Arm abgehackt – und der Riesenkalmar hat sich mit letzter Kraft gewehrt –, so gibt das genug Stoff für abenteuerliche Geschichten, in denen die letzten Zuckungen zu einem Angriff aufgebauscht werden.

Derart unzuverlässig war lange Zeit fast alles, was man über die Tiere zu glauben meinte. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurden zwar einige tote Riesenkalmare an die Küste geschwemmt und untersucht. Da Weichtiere aber keine Knochen haben und nach dem Tod völlig außer Form geraten, lassen sich aus solchen Kadavern nur vage Rückschlüsse auf das lebende Tier ziehen.

Doch Wissenschaftler erfahren immer mehr über die Tiere. 2004 gab es die ersten Bilder von Riesenkalmaren in der Natur, aufgenommen von U-Booten aus. 2012 gelangen sogar Videoaufnahmen. „Auf ihnen sieht man silbern und golden glänzende Tintenfische, die elegant in der dunklen Tiefsee schwimmen“, sagt Bolstad. Aus den Fabelwesen der alten Stiche sind reale Unterwasserriesen geworden.

Einer von ihnen landete im Februar 2007 sogar an der Fangleine des neuseeländischen Fischereischiffs „San Aspiring“, das in der Ross-See vor der Antarktis Riesendorsche köderte. Die knapp zwei Meter großen Speisefische, die bereits an den Haken hingen, waren offenbar auch einem Kolosskalmar aufgefallen – und er griff zu.

Nicht dass die Weichtiere auf hilflose Beute angewiesen wären. Die Meeresungeheuer scheinen selbst gute Jäger zu sein. Das folgern die Wissenschaftler aus ihrem Körperbau. Vermutlich schnellen Kolosskalmare ihre beiden gut zwei Meter langen Tentakel ihrer Beute entgegen. An deren Ende befinden sich sehr bewegliche Haken, die sich in das Opfer krallen. Danach ziehen sie ihre Beute in die weit ausgebreiteten acht Arme, von denen jeder etwa einen Meter lang ist. Mit den fest sitzenden Haken und riesigen Saugnäpfen auf den Armen ziehen die Weichtiere ihre Opfer dann zum Schnabel im Zentrum von Armen und Tentakeln. Damit zerscheiden sie die Beute, bis sie durch die daumendicke Speiseröhre passt.

Als die Fischer an Bord der „San Aspiring“ ihre Langleine einholten, sahen sie einen großen, leuchtend roten Tintenfisch, der nach wie vor den Riesendorsch umklammerte. Das Tier war sichtbar am Ende seiner Kräfte. Die Beobachter der Fischereibehörde, die auf allen Trawlern Neuseelands mitfahren, erkannten den ungeheuren wissenschaftlichen Wert dieses Fangs. Mit einem Netz hievte die Besatzung das Tier an Bord und fror es rasch ein. Drei Monate später kam der Riese in die Tiefkühlabteilung des Nationalmuseums Te Papa in Wellington, wo er weiter untersucht werden sollte.

„Eines der größten Probleme unserer Forschung ist, dass wir gar keine Labortische und Geräte haben, die groß genug sind, um solche riesigen Tintenfische zu untersuchen“, sagt Bolstad. Der Kolosskalmar wurde in ein eigens gebautes, sechs Meter langes Becken gehievt und in 6000 Liter eisgekühltem Wasser und 320 Kilogramm Salz 60 Stunden lang aufgetaut.

Dann stiegen die Biologin und ihre Kollegen, ausgerüstet mit wasserdichten Wathosen, zu dem toten Kolosskalmar ins Salzwasserbecken. Selbst einfache Messungen wie die seiner Größe waren äußerst schwierig, weil der Riese nach mehr als einem Jahr in der Tiefkühlkammer viel Wasser verloren hatte und geschrumpft war. Hatte die Besatzung des Trawlers ihn noch auf acht bis zehn Meter Länge geschätzt, zeigte das Maßband nach dem Auftauen nur noch 4,2 Meter.

Der schwerste Teil der riesigen Weichtiere ist normalerweise der Mantel. So heißt der zweieinhalb Meter lange Zylinder aus Muskelsträngen und Haut. Im Inneren befinden sich die Organe, am hinteren Ende sitzt die etwa ein Meter lange Schwanzflosse, mit der ein Kolosskalmar schwimmt. Zumindest solange er den Vorwärtsgang eingelegt hat. Flieht das Tier dagegen rückwärts, saugt es wie alle Tintenfische Wasser in einen Hohlraum im Mantel und presst es dann durch ein „Trichter“ genanntes Organ in einem scharfen Strahl nach vorn. Der Rückstoß katapultiert das Tier nach hinten und der Angreifer, wie zum Beispiel ein Pottwal, schnappt ins Leere.

Vorn am Mantel sitzt der Kopf des Weichtieres, aus dem die Arme und Tentakel wachsen. Dort entdeckten die Wissenschaftler prompt weitere Rekorde: 27 Zentimeter Durchmesser haben die Augen, sie sind ungefähr so groß wie ein Fußball. Zunächst rätselten Biologen, wie der Riese in der ewigen Dunkelheit der Tiefsee überhaupt sehen kann. Des Rätsels Lösung: Der Kolosskalmar hat in jedem Auge einen Suchscheinwerfer eingebaut. Gleich neben der Linse sitzt ein schmales Band von Lichtzellen. Wenn das Tier nach vorne schaut, beleuchtet es damit gleichzeitig seine Beute, kann die Entfernung gut schätzen und mit den langen Tentakeln zugreifen.

Der Knorpel, der den Trichter mit dem Mantel verbindet, beweist klar, dass Kolosskalmare in der Tiefsee offensichtlich aktive Jäger sind. Dieses Bindeglied ist bei dem in Te Papa untersuchten Tier sehr stark ausgebildet, genau wie es bei einem rasanten Schwimmer und Sprinter sein sollte.

Bei Riesenkalmaren hingegen ist die Verbindung aus weichem Gewebe und damit ganz anders als bei Kolosskalmaren. „Ein Riesenkalmar ist daher eher langsam in der Tiefsee unterwegs“, sagt Bolstad. In diesem Tempo erwischen sie wohl auch nur langsame Beute. Tatsächlich fand die Forscherin im Magen der Riesen vor allem Reste anderer Tintenfische, die in der Tiefe wohl ebenfalls nicht allzu schnell unterwegs sein dürften.

Riesenkalmare wie der im Hinterhof der Auckland University of Technology erreichen die Wasseroberfläche meist nur tot. Die an das zwei bis vier Grad kalte Wasser der Tiefe gewöhnten Tiere überleben den Temperaturschock nicht, wenn sie an die wärmere Oberfläche gezogen werden. Auch das widerlegt die auf Kupferstichen gezeigten Szenen: Ein toter Riesentintenfisch wird kaum ein Boot angreifen. In der Antarktis dagegen ist das Wasser oben wie unten ähnlich eisig und die dort lebenden Kolosskalmare haben größere Chancen, wenn sie an die Oberfläche kommen. Lange überleben aber auch sie nicht.

Da Videoaufnahmen der Riesen in großen Tiefen äußerst aufwendig sind, konzentrieren sich die Forscher zwangsläufig auf tote Tiere. Zum Beispiel fanden Inger Winkelmann und Thomas Gilbert von der Universität Kopenhagen heraus, dass sich das Erbgut von 43 Riesenkalmaren aus sehr unterschiedlichen Meeresregionen verblüffend ähnelt. Das wischt die bisherige Vermutung anderer Forscher vom Tisch, wonach mehr als 20 Arten von Riesenkalmaren in den Weltmeeren schwimmen sollten. „Es scheint dort aber nur eine Art zu geben“, interpretiert Uwe Piatkowski am Geomar die genetische Ähnlichkeit.

Während das Erbgut über das Verhalten der Tiere kaum etwas verrät, können Biologen aus den Organen durchaus auf die Lebensweise schließen. Auf ein eher gemächliches Schwimmen deuten zum Beispiel die Gleichgewichtsorgane der Weichtiere hin. Das sind kleine Hohlräume im Kopf. Beschleunigt ein Tier, werden Steinchen gegen Sensorhärchen an der Innenwand der Höhle gedrückt, deren Nervenzellen dann mitteilen, wie stark und in welche Richtung der Körper beschleunigt. Beim Riesenkalmar sind diese „Statolithen“ mit einigen Millimeter Durchmesser ausgesprochen groß. „Damit können die Tiere ihre Bewegungen weniger genau messen als mit kleineren Statolithen“, sagt Bolstad.

Nach wie vor wenig wissen die Forscher über die Fortpflanzung der Unterwasserriesen. Aus dem Verhalten kleinerer Arten schließen sie, dass während der Paarung beide Partner Kopf an Kopf in der Dunkelheit der Tiefsee schweben. Die Köpfe verschwinden hinter einem Vorhang aus 16 Armen und vier Tentakeln. Dann schießt das Männchen seine Samenpakete auf das Weibchen, das diese erst einmal in ihren Samenvorrat nimmt, mit dem es später die Eier befruchtet.

Auch was das Ergebnis der Paarung betrifft, tappen die Wissenschaftler noch im Dunkeln. Bei manchen kleineren Arten legt ein 30 Zentimeter langes Tintenfischweibchen zum Beispiel einen Eiball mit rund zwei Metern Durchmesser. Er besteht aus einer geleeartigen Masse, die einige hunderttausend winzige Eier enthält. Über die Größe des Eiballs eines Riesenkalmars gibt es dagegen bisher mangels Beobachtungen nur Spekulationen. Die reichen bis zu einem Durchmesser von 20 Metern. Aber vielleicht haben die Riesen ja auch wenige und größere Eier, die sie ähnlich wie andere Tintenfischarten eine Zeitlang mitschleppen, um sie vor gefräßigen Mäulern und Schnäbeln zu schützen?

Wie so vieles bleibt also auch die Vermehrung der Riesenkalmare im Dunkeln. Nur eines scheint klar: Weil sich Tintenfische normalerweise nur ein einziges Mal im Leben vermehren und danach sterben, sollten die Riesen dieser Tiergruppe bei diesem einen Versuch eine ganze Menge Nachkommen haben. Das beweist allein schon der Mageninhalt von Pottwalen in den Gewässern der Antarktis. „Drei Viertel ihrer Beute sind Kolosskalmare“, sagt Bolstad. Die Gewässer in der Tiefe scheinen also von diesen riesigen Weichtieren nur so zu wimmeln. Und nur die wenigsten von ihnen landen auf den Hinterhöfen von Universitäten oder in Museen, um dort von Forschern untersucht zu werden.

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