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Überlagerung. Psychische Erkrankungen überschneiden sich in ihren Ursachen und Symptomen. Forscher fordern nun, von den sauberen Krankheitskategorien der Psychiatrie Abschied zu nehmen.

© Petra Schulz / una.knipsolina

Diagnostik in der Psychiatrie: Schatten der Seele neu denken

Forscher untersuchen die Grundlagen psychischer Krankheiten in Genen und Gehirn – und finden zahlreiche Überschneidungen. Nun diskutieren Psychiater, ob ihre Einteilung seelischer Leiden noch haltbar ist.

Wer wegen Beschwerden zum Arzt geht, will wissen, was er hat. Als erster Schritt zur Heilung gilt die richtige ärztliche Diagnose. Das ist bei seelischen Leiden nicht anders. Doch in der Psychiatrie wird zurzeit eine erregte Debatte darüber geführt, ob die bisherige Systematik seelischer Krankheiten überholt ist und Ärzte sich von den gewohnten Grenzen zwischen verschiedenen Leiden verabschieden sollten.

Seit Jahrzehnten teilen Psychiater geistige Leiden fein säuberlich in Krankheitsbilder wie Schizophrenie, Depression, Autismus oder bipolare Störung. Diese „kategoriale“ Systematik geht auf den deutschen Psychiater Emil Kraepelin zurück. Er hatte Ende des 19. Jahrhunderts psychische Krankheiten nach ihrem Verlauf und ihren Symptomen in verschiedene Kategorien eingeteilt und beispielsweise den Grundstein für die Unterscheidung zwischen schizophrenen Psychosen und manisch-depressiven (bipolaren) Störungen gelegt. Eine solche Einteilung in klar abgrenzbare Krankheiten liegt dem Diagnosesystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation zugrunde. Und sie prägt auch das lang erwartete DSM 5, das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ der Vereinigung der amerikanischen Psychiater, das gerade druckfrisch in den Sprechzimmern der US-Mediziner liegt.

Doch viele Patienten halten sich nicht an die Kategorien, die Psychiater entworfen haben. „Reine Lehrbuchfälle sind selten“, sagt Rainer Hellweg, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité. „Die meisten unserer Patienten leiden an einem ganzen Bündel von Symptomen.“ Und Forscher, die diese Symptome mit modernen Methoden untersuchen, stellen immer häufiger fest, dass biologische Befunde mit den klassischen Kategorien nur schlecht übereinstimmen. „Je länger ich in meinem Fach arbeite, desto mehr kann ich den Wunsch nach einer neuen Klassifikation nachvollziehen“, sagt Hellweg.

Besonders die Genforschung liefert Ergebnisse, die die herkömmliche Einteilung ins Wanken bringen. Die Gene eines Menschen entscheiden zwar nicht allein, ob er psychisch krank wird, aber sie beeinflussen sein Risiko, unter bestimmten Lebensumständen eine psychische Krankheit zu entwickeln. Immer wieder tauchen aber bei verschiedenen Krankheiten dieselben Gene als Risikofaktoren auf. So hat eine Gruppe von 300 Forschern aus 20 Ländern kürzlich das Erbgut von über 30 000 Patienten mit Schizophrenie, Depression, bipolarer Störung, Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) oder Autismus untersucht. Sie fanden vier Stellen im Erbgut, die das Risiko für alle diese Krankheiten erhöhten. 17 bis 28 Prozent des Risikos, eines dieser Leiden zu bekommen, stünden an diesen vier Stellen in den Chromosomen geschrieben, berichteten die Forscher am 11. August im Fachblatt „Nature Genetics“. Am meisten überlappen in genetischer Hinsicht Schizophrenie und bipolare Störung, doch auch zwischen Depressionen und ADHS gibt es eine große Schnittmenge.

Die Arbeitsgruppe, die teilweise von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA finanziert wird, trägt den programmatischen Namen „Cross Disorders Group“. Das steht für ein Überschreiten der gewohnten diagnostischen Grenzen, auch für die Suche nach neuen Diagnosekriterien, die Gemeinsamkeiten zwischen den Krankheitsbildern berücksichtigen. Bruce Cuthbert vom Nationalen Institut für Mentale Gesundheit der USA sagte denn auch beim Erscheinen der Studie klipp und klar: „Die Belege dafür, in welchem Umfang traditionellen psychiatrischen Diagnosen gemeinsame genetische Risikofaktoren zugrunde liegen, werden uns dabei helfen, zu einer Klassifikation zu kommen, die sich mehr auf die Natur stützt.“

Kombination mehrerer Leiden

Untersuchungen im „Hirnscanner“ kommen zu ähnlich kritischen Ergebnissen. Ein Team um die amerikanische Nuklearmedizinerin Helen Mayberg hat Patienten mit schweren Depressionen in den Positronenemissionstomografen (PET) gelegt und dort den Glukoseverbrauch in einer Hirnregion knapp über dem Ohr gemessen, der Inselrinde. Der Verbrauch der schwach radioaktiv markierten Zuckermoleküle gibt Aufschluss über das Ausmaß an Aktivität in der untersuchten Hirnregion. Im Fachblatt „Jama Psychiatry“ berichten die Forscher nun, dass Patienten mit einem höheren Glukoseverbrauch in der Inselrinde gut auf eine Behandlung mit Medikamenten ansprachen. Bei Patienten, deren Inselrinde wenig aktiv war, wirkte dagegen eine kognitive Verhaltenstherapie besonders gut. Aber haben diese beiden Gruppen dann überhaupt dieselbe psychiatrische Erkrankung wie es das Etikett „Depression“ nahelegt?

Und haben diese Patienten wirklich nur eine einzige Krankheit? „Ungefähr ein Fünftel aller Patienten, die die Kriterien für eine der DSM-Diagnosen erfüllen, erfüllen zugleich die von mindestens zwei anderen“, so ist in einem kritischen Bericht zu den Diagnosemanualen in der Zeitschrift „Nature“ vom April dieses Jahres zu lesen. Steve Hyman vom Stanley Center für Psychiatrische Forschung in Cambridge, Massachusetts, wird darin mit der etwas süffisanten Bemerkung zitiert, das seien eben die Patienten, „die das Textbuch nicht gelesen haben“.

„Wir brauchen ein neues Denkkonzept“, sagt Markus Leweke, Arbeitsgruppenleiter des Exzellenzzentrums für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Eines Tages, davon ist der Forscher überzeugt, werden Psychiater neurobiologisch begründete Diagnosen stellen können. „Und es ist nicht zwingend, dass sie mit den heutigen Krankheitsbildern deckungsgleich sind.“

Noch ist es nicht so weit. „Geradezu neidisch“ könne man als Psychiater werden, wenn man die Krankheitsbilder betrachte, mit denen sich die Kollegen aus der Neurologie befassen, schreibt Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, in seinem Buch „Biologie für die Seele“. Man nehme nur die Parkinson-Krankheit: Dort gebe es einen klar belegbaren Zusammenhang zwischen Symptomen wie Muskelstarre und Zittern, dem Absterben von Nervenzellen in einem Bereich des Mittelhirns, die Dopamin produzieren, und der Wirkung von Arzneimitteln, die das Defizit korrigieren. Hingegen könnten heute weder Depressionen noch schizophrene Psychosen, Angsterkrankungen oder Demenzen eindeutig von einem solchen Kausalmechanismus abgeleitet werden. „Fast scheint es, als hätten sich Psychiater und Neurologen die Erkrankungen des Gehirns nach den Möglichkeiten ihrer Diagnostizierbarkeit aufgeteilt.“ Die leichter diagnostizierbaren ins Töpfchen der Neurologie, die schwerer zu diagnostizierenden ins Kröpfchen der Psychiatrie?

Spektrum der geistig-seelischen Krankheiten

Manche Wissenschaftler glauben, dass sich die geistig-seelischen Krankheiten besser als eine Art Spektrum darstellen lassen. So machten die britischen Neurowissenschaftler Nick Craddock und Michael Owen 2010 im „British Journal of Psychiatry“ den Vorschlag, fünf Krankheiten, die bisher als unterschiedliche Leiden angesehen werden, auf einer Achse anzuordnen: geistige Behinderung, Autismus, Schizophrenie, schizoaffektive und schließlich bipolare Störung. Die ersten drei Störungen teilen als Symptom zeitweilige oder dauerhafte kognitive Einschränkungen, die letzten beiden Stimmungsschwankungen. Und Autismus und Schizophrenie sind negative Symptome wie ein Mangel an emotionaler Antwort auf Reize aus der Umwelt gemeinsam. Tatsächlich wollten sich auch einige Autoren des DSM-5 zunächst von der klassischen Einteilung verabschieden und ein Konzept durchsetzen, bei dem die verschiedenen Krankheiten sich überschneiden. Doch viele Psychiater kritisierten das als verfrüht, und auch Stiftungen und Patientenorganisationen, die sich um einzelne Diagnosen organisiert haben, rebellierten – mit Erfolg.

Dabei könnte eine neue Einteilung psychischer Krankheiten eines Tages auch helfen, die Behandlung zu verbessern. Die Medikamente, die Psychiatern heute zur Verfügung stehen, wirken ohnehin nicht gegen einzelne abgrenzbare Krankheiten, sondern gegen Symptome und Bündel von Symptomen, sogenannte Syndrome. So gibt es zum Beispiel Mittel gegen den Antriebsverlust, der nicht allein für unipolare Depressionen und die depressive Phase der bipolaren Störung, sondern auch für die „Minussymptomatik“ bei schizophrenen Patienten typisch ist.

Ob bei einer ersten psychotischen Episode die gängigen Medikamente helfen, scheint nicht von dem diagnostischen Label abzuhängen, unter dem die Betroffenen laufen, sondern von charakteristischen Veränderungen im Gehirn. Das legt eine weitere Studie nahe, deren Ergebnisse vor wenigen Tagen in der Fachzeitschrift „Jama Psychiatry“ veröffentlicht wurden. Lena Palaniyappan von der Universität Nottingham und ihre Kollegen haben dafür 126 Personen zweimal im Abstand von drei Monaten in den Magnetresonanztomografen (MRT) gelegt. 80 von ihnen hatten kurz zuvor eine erste psychotische Episode erlebt, 46 waren gesunde Freiwillige.

Die Forscher hatten dabei die Stärke der Faltungen in bestimmten Regionen des Gehirns im Auge, vor allem im Schläfen- und Stirnbereich. Patienten, bei denen diese Faltung auffallend reduziert war und blieb, waren zugleich die, die kaum oder gar nicht auf die Medikation ansprachen. Ob sie gleichzeitig unter Stimmungsschwankungen oder einer depressiven Verstimmung litten, welchen „Typ“ von Psychose sie also hatten, spielte dagegen keine Rolle.

Parallelen zur Krebsmedizin

Einiges deutet also darauf hin, dass es an der Zeit sein könnte, Kraepelins Kategorien zu überdenken. „Unsere Vorgänger Ende des 19. Jahrhunderts haben das große Verdienst, eine Ordnung für psychische Erkrankungen entwickelt zu haben. Sie haben nach biologischen Grundlagen gesucht, hatten aber dafür noch nicht die verfeinerten Instrumente“, meint Leweke. Erst die heutigen Kapazitäten moderner Rechner ermöglichen es ihm und seinen Kollegen, Daten auszuwerten, „die man noch vor einigen Jahrzehnten einfach nicht erfassen und speichern, geschweige denn in komplexe Zusammenhänge bringen konnte“. Je mehr Befunde aus Laboruntersuchungen und Bildgebung man zusammenführen könne, umso besser werde die Treffsicherheit.

Möglich, dass dann hinter einem bunten Bild von Störungen eine gemeinsame neurobiologische Konstellation erkannt wird. Und dass umgekehrt hinter ein und demselben Symptom ganz unterschiedliche „Grundkrankheiten“ stecken. Leweke sieht Parallelen zur Krebsmedizin. Das Erbgut von Tumoren wird inzwischen routinemäßig untersucht, um die Behandlung dann an dem genetischen Profil der Krebszellen auszurichten. Entscheidend ist dann nicht unbedingt, in welchem Organ der Tumor auftritt, sondern welche Veränderungen im Erbgut zur Entstehung der Tumorzellen geführt haben. Zumindest bei der Konzeption neuer wissenschaftlicher Studien sollten sich auch Psychiater nicht sklavisch an die Unterteilungen der Diagnosemanuale halten, fordert Leweke. Schon heute spricht er lieber von der „Gruppe der Schizophrenien“. Auch das könnte aber nur ein Zwischenstopp sein auf dem Weg zu einer neuen Einteilung, die die Biologie des Geistes besser widerspiegelt. „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir den Begriff ‚Schizophrenie’ eines Tages gar nicht mehr brauchen.“

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