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Schule im Problemkiez: Kevins Kosmos

Schule im Problemkiez: Mannheim hat ein Rezept gefunden, das Vorbild für andere Städte sein könnte.

Von Anna Sauerbrey

Kevin hat das Weltall auf DIN A3 gebannt. Im Zentrum des Bildes steht ein gewaltiger Komet, der auf die Erde zurast. „Der wird mit Raketen beschossen“, erklärt der Sechsjährige. „Damit er nicht einschlägt.“ Kevin besucht die erste Klasse der Humboldt-Grundschule in Mannheim, Ortsteil Neckarstadt West. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bauten hier die Mannheimer Obst und Gemüse an. Heute ist es mit der bürgerlichen Gartenidylle vorbei. In Neckarstadt leben rund 20 000 Menschen, 60 Prozent kommen aus Einwandererfamilien. Die Arbeitslosenquote liegt mit knapp zehn Prozent deutlich über dem Mannheimer Schnitt. Einen Sportverein gibt es nicht, auch kein Gymnasium. Trotzdem soll der Stadtteil Bildungsvorbild werden. Und ganz Mannheim gleich mit.

Mannheim, 320 000 Einwohner, ein roter Fleck im schwarzen Ländle, hat sich viel vorgenommen. „Wir wollen in der Bildungspolitik Verantwortung übernehmen“, sagt Gabriele Warminski-Leitheußer. Die Juristin aus dem Ruhrgebiet hat das neue Bildungsressort übernommen, das nach einer Reform 2007 ein regelrechtes Super-Ressort ist: Die SPD-Dezernentin dirigiert die Schulen, auch die Musikschule, ebenso die Stadtbibliothek, die Gesundheitspolitik und die Themenfelder Jugend, Freizeit und Sport. In dieser Behörde spiegelt sich der Ansatz der Mannheimer. Weil der Kommune eigentlich die Hoheit und das nötige Geld für eine eigenständige Bildungspolitik fehlen, heißt es: besser organisieren, Angebote vernetzen, Synergien nutzen. Kinder und Jugendliche sollen von der Kita bis in den Beruf lückenlos und möglichst individuell gefördert werden.

Kevins Schule zum Beispiel, die Humboldt-Schule im Problemviertel Neckarstadt, ist die Zentrale im „Quadratkilometer Bildung“. Entwickelt hat das Konzept die Stiftung der Unternehmerfamilie Freudenberg, die auch in Berlin zwei „Quadratkilometer“ finanziert, in Moabit West und im Neuköllner Reuterkiez. In Mannheim wurde mit den Geldern, die zum Teil von der Stadt und zum Teil von der Stiftung kommen, die Stelle der Projektleiterin Helga Mann geschaffen. Sie nahm mit allen Bildungseinrichtungen rund um die Grundschule Kontakt auf, auch mit den rund 30 Sozial- und Bildungsprojekten im Stadtteil.

Idee des „Quadratkilometers“ ist es, Kinder aus Problemvierteln früh an die Hand zu nehmen. „Es geht damit los, dass wir schwangere Mütter ansprechen und versuchen, sie an Mutter-Kind-Zentren zu binden“, sagt Warminski-Leitheußer. Die Stadt will mehr Mütter auch dazu zu bewegen, ihre Kinder in der Kita anzumelden, bislang sind es nur 86 Prozent.

Einmal in der „Bildungskette“ angekommen, sollen die Übergänge möglichst reibungslos gestaltet werden. Für Kevin hieß das, dass er im letzten Kindergartenjahr einmal in der Woche Besuch von Susanne Stühmeier bekam, einer Lehrerin der Humboldt-Schule. Sie zeigte dem Jungen, was Schule bedeutet: Etwa, dass man seinen Namen auf ein Blatt schreibt und dass man sich meldet, wenn man etwas sagen möchte. „Das wichtigste ist aber, dass die Kinder ohne Angst in die Schule gehen“, sagt Stühmeier. Projektleiterin Mann stellte auch den Kontakt her zu ehrenamtlichen Lesepatinnen. Die betreuen nun während des Unterrichts Schüler direkt in der Klasse.

Die Idee der Kooperationen verfolgt die Stadt auch mit dem Projekt „MAUS“. Mannheim finanziert 10 000 zusätzliche Förderstunden vor allem für schwache Schüler, um die sich städtische Schulen bewerben können. Angeboten werden die meisten Kurse von Mitarbeitern der Mannheimer Volkshochschule: Sie stellen mit Grundschülern die Steinzeit nach, töpfern, spielen Theater, kochen. An der Schönau-Grund- und Realschule etwa, die auch in einem Mannheimer Problemviertel liegt, sei der Umgang mit den Schülern schon leichter geworden, sagen Lehrer und Schulleiter. „Wir unterrichten Kinder, die von ihren Eltern nur sehr wenige Anregungen bekommen. Für die ist gemeinsames Kochen ein Gewinn, für die Persönlichkeitsentwicklung, aber auch als Sprachtraining“, sagt die Schulleiterin Monika Fuchs.

Letztlich zerfällt die Idee einer kommunalen, lückenlosen Bildungskette so an den Schulen wieder in unzählige, kleine Anstrengungen. Und nicht alles ist einzigartig in Mannheim. Besonders ist vielleicht, dass die Stadt fast das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ausschöpft. Dabei gilt die Prämisse: Es muss günstig sein, am besten kostenlos.

Neben den Geldern der Freudenberg-Stiftung heißt das zum Beispiel: 1,1 Millionen Euro aus dem Bundestopf „Lernen vor Ort“, Deputatstunden vom Land für die Förderung von Leistungssportlern in der Gesamtschule, Gelder des Lion’s Clubs. Wenn einmal partout kein Geld da ist, wird auch getrickst. Mit 12 Millionen Euro hat die Stadt ihre Gesamtschule saniert. Finanziert hat die Verwaltung das durch ein Lease-back-Geschäft mit der eigenen Wohnungsbaugesellschaft. Die hundertprozentige Stadttochter hat die Gebäude gekauft, nun least die Stadt sie zurück. Hinzu kommen reguläre Haushaltsgelder und das große Engagement vieler Lehrer, Erzieherinnen und Schulleiter.

Mannheim sieht sich mit dieser Strategie als Teil einer Bewegung hin zu mehr kommunaler Bildungsverantwortung. „Viele Kommunen haben das Thema für sich entdeckt“, sagt auch Klaus Hebborn, Bildungsdezernent des Deutschen Städtetags. Denn die Gemeinden zahlen einen Teil der Kosten, die durch zerbrochene Bildungskarrieren entstehen. In Mannheim ist 2010 rund ein Drittel des Verwaltungshaushaltes für soziale Sicherung verplant. Durch frühe und nachhaltige Förderung potenzieller Problemschüler könnten sie schlicht Kosten sparen. Schon vor drei Jahren forderte der Städtetag daher mehr Kompetenzen in der Bildungspolitik von den Ländern, vergeblich. Immerhin unterstützt das Bundesbildungsministerium einige Kommunen. In dem Projekt „Lernen vor Ort“ werden seit 2009 40 Gemeinden mit Stiftungen zusammengebracht, um ein eigenständiges Bildungsmanagement aufzubauen – Mannheim ist eine davon.

Mehr ist in absehbarer Zeit auch nicht drin, sagt Jörg Bogumil, Experte für Kommunalpolitik an der Universität Bochum. Entscheidungen über Curricula und Schulformen werden seiner Ansicht nach Ländersache bleiben. „Das ist auch gut so“, sagt der Politikwissenschaftler. „16 verschiedene Schulsysteme sind im Grunde schon zu viel.“ Hier spüren auch die Mannheimer die Grenzen ihres Spielraums. Eigentlich hätten sie gern eine weitere Gesamtschule. Doch das Land sagt Nein. Es gelte, „einen regionalen Flickenteppich“ zu verhindern, erklärt eine Sprecherin des Kultusministeriums.

Erste Erfolge kann die Stadt am Neckar unterdessen verzeichnen. An der frisch sanierten Gesamtschule etwa hatten in den letzten sieben Schuljahren im Schnitt 13 Prozent der Abiturienten eigentlich nur eine Hauptschulempfehlung, 43 Prozent eine Realschulempfehlung. Oft aber ist der Erfolg kaum in Zahlen messbar. Monika Fuchs, deren Schule von den zusätzlichen Förderstunden profitiert, erzählt: „Wir haben Kinder, die haben in einem Diktat mit 70 Wörtern 60 Fehler gemacht. Jetzt machen sie nur noch 25, auch wenn das immer noch eine Sechs ist.“ Für die Kinder aber, in Kevins Kosmos, ist es ein Erfolg.

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